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Ist es gut, so wie ich ständig einen Vorrat von einem halben Dutzend unerledigter Touren vor sich her zu schieben? Ja, denn es ermöglicht, kurzfristig die am besten zur Wettervorhersage passende Tour aus der Schublade zu ziehen. Drei Tage vor der Abreise standen noch eine Radtour von Posen in Richtung Pommern, eine Wanderung von Prag nach Südböhmen und eine Wanderung auf dem böhmisch-schlesischen Grenzgebirge "soweit die Füße tragen" zur Auswahl. Zwei Tage vor dem Start stabilisierte sich die Vorhersage für die Grenzgebirgstour soweit, dass ich weitgehend vor Regen sicher schien.
1. Oktober
Wie gewohnt nutzte ich den ersten Eurocity nach Dresden für einen schönen Bahnschlaf. Von Dresden ging es nach Zittau, von Zittau nach Liberec/Reichenberg. Nicht, um dort zu starten, sondern um noch einige fehlende Landkarten nachzukaufen. Mit dem nächsten Zug fuhr ich zurück nach Chrastava.*
*) Der leichteren Nachverfolgbarkeit auf den heutigen Karten zuliebe werde ich in erster Linie die tschechischen bzw. polnischen Bezeichnungen verwenden – obwohl mir klar ist, dass es sich häufig um bloße Übersetzungen der deutschen Ortsbezeichnungen früher mehrheitlich deutschsprachig besiedelter Gebiete handelt.

[Frakturschrift ein]Ja ist es denn schon wieder soweit? Zwei Züge aus dem Altreich begegnen sich in Kratzau (Sudetengau)
[/Frakturschrift aus]
In Chrastava waren die Spuren des Augusthochwassers noch unübersehbar. Eine Behelfsbrücke überspannt hier die Neiße. Wenn man diese Verwüstungen gesehen hat, wird man Meldungen von Überschwemunngen in der Zeitung nicht mehr mit den gleichen Augen wie vorher lesen. Als meinen Beitrag zur Ankurbelung der lokalen Wirtschaft füllte ich dort die letzten Lücken in meinen Futtervorräten. Oder waren es schon wieder die ersten Lücken?

Ein ausgespülter Waldweg oberhalb von Chrastava.
Es war halb zwei, als ich endlich startete. Natürlich ging es erst einmal bergauf, und ich war froh, dass mich der Sonnenuntergang gegen 18:30 davor bewahren würde, mir gleich am ersten Tag einen Muskelkater einzufangen. Kurz vor dem schon in Polen liegenden Granizcny Wierch schwenkte ich auf dem Kamm auf einen grün markierten Weg ein, der sich hier hochtrabend als Teil des „Neuen Kammwegs“ bezeichnete. EU-Förderung hat es möglich gemacht, Wanderwege vom Zittauer Gebirge bis ins Riesengebirge zusammenzuführen und baulich nachzurüsten. Auf weiten Teilen der nächsten 40 km hätte er nach deutschem Standard Premium-Status verdient. In der Praxis wäre er allerdings nie Premium-Weg geworden, weil er zu wenig Orte anläuft.
Nach den ersten bizarren Granitformationen erreicht ich den Pass Oldrichovskeho sedlo. Hier war ich schon zweimal mit dem Fahrrad längs gefahren, aber noch nie quer durchgekommen. In der Gastwirtschaft auf dem Pass legte ich um kurz vor sechs Uhr meine Abendessen-Pause ein. Es gab ein liebevoll handgeklopftes Schnitzel mit Pommes und untschechisch großer Salatgarnitur. Ein wichtiges Argument für das Wandern in Böhmen ist die Tatsache, dass man die Menge mitgeführter Lebensmittel recht gering halten kann – für den Preis einer Trekkingmahlzeit gibt es meistens das Hauptgericht, manchmal sogar die ganze Mahlzeit. Und das Abspülen spart man sich auch.
In dieser Gastwirtschaft begann für mich den Urlaub dann wirklich: Im Raucher-Vorraum hatte sich eine Gruppe tschechischer "Tramps" mit ihrer Gitarre niedergelassen und spielten all die Lagerfeuer-Lieder aus meiner Prager Studienzeit, von Jizni kriz bis Ruze z papiru, von Montgomery bis Tisic mil... Für die Nichteingeweihten: „Tramps“ (oder Trampove) sind eine wohl spezifisch tschechische Form von informellem Pfadfindertum. Ein christlicher Hintergrund ist ihnen fremd, dafür haben sie ein unverkrampftes Verhältnis zu Alkohol und anderen Betäubungsmitteln. Die Tramps kommen aus allen Bevölkerungsschichten mit Ausnahme der Wochenendhausbesitzer.
In der letzten Dämmerung brach ich wieder auf, um einen Platz für meine liebe Schildkröte Hogan zu suchen – natürlich erst hinter dem Naturschutzgebiet (Narodni prirodni rezervace). In der Nacht wurde ich mehrfach wach, weil der Wind mit Getöse durch Buchen über mir rauschte. Eine Autobahn macht wenigstens gleichmäßiges Rauschen, wie ich seit der WAI-Übergabe in Pirk weiß.
Technische Daten: 20,6 km in 6h 50' (brutto)
2. Oktober
Was sich abends im Licht der Fenix als undurchsichtiges Gebüsch präsentiert hatte, entpuppte sich am Morgen als mageres Zweigewerk. Um halb neun erblickte ich durch das Moskitonetz die ersten Pilzsammler; die waren jedoch diskret genug so zu tun, als hätten sie mich nicht gesehen.
Das Wildcampen ist offiziell natürlich genauso verboten wie in Deutschland. Andererseits gibt es auch eine jahrzehntealte Kultur der Toleranz des unreglementierten Outdoorlebens. Ich rede hier nicht vom Minimal-Impact-Einmalcampen, sondern vom Phänomen der „Trampska osada“ (wörtlich: Tramp-Siedlung): Das sind feste Lagerplätze von Tramp-Cliquen tief im Wald. Häufig luxuriös ausgestattet mit Unterstand, Feuerstelle, Bänken, einem Kühlfach für Getränke im nächsten Bach und einer schwerkraftgetriebenen Toilette. Auch die Truppe, die ich am Abend zuvor im Gasthaus gesehen hatte, war der Ausstattung nach zu urteilen auf dem Weg in den Wald. "Ultralight" ist von diesen Kunden niemand unterwegs; Kriterium für zweckmäßige Ausstattung ist eher eine kostengünstige Resistenz gegen Funkenflug und Dreck. Womit die meisten bei abgelegten Armeeklamotten aus Baumwolle landen und das Erscheinungsbild eher an Freischärlerbanden erinnert.
Ich folgte weiter meinem „grünen“ Weg, der durch einen schon leicht vergoldeten herbstlichen Buchenwald führte und immer wieder mit schönen Granitklippen garniert war. Ja, so könnte es im Harz auch aussehen, wenn man dort nicht jahrzehntelang nur Fichten angebaut hätte!
Schließlich landete ich aber doch wieder auf eine Schotter- und Asphaltpiste. Eine gewisse Entschädigung war, dass ich kurz darauf auf einen geöffneten Imbiss stieß. Das gut gekühlte Radegast Birell – meiner Ansicht nach das beste nicht-herbe alkoholfreie Pils Mitteleuropas – war das i-Tüpfelchen. Womit auch erklärt wäre, warum ich ohne viel Zögern auf die Mitnahme eines Filters verzichtet hatte: Die Getränkeversorgung ist in Ostmitteleuropa immer gesichert.
Weiter ging es Richtung Ptaci kupy und Holubnik. Diese Klippen dekorieren einen Bergrücken und ragen weit über Hochmoor und Baumleichen hinaus. Nach Ansicht eines Einheimischen gilt die Aussicht vom Holubnik als die beste Aussicht im ganzen Isergebirge – besser als vom gut 100 Meter höheren Jizera (laut reichsdeutscher Karte von 1936 „Sieghübel“) oder Smrk/Tafelfichte. Wegen des Dunstes konnte ich das zwar nicht verifizieren. Aber auf jeden Fall war die Aussicht viel besser als bei der Stammtisch-Tour eine Woche zuvor vom Jizera. Könnte aber vielleicht auch am Nebel damals gelegen haben. Kleiner Tipp zur Nachahmung: Den Weg auf jeden Fall in West-Ost-Richtung begehen. Der Aufstieg von Osten ist ein nur notdürftig begradigtes Blockfeld, beim Abstieg bräuchte man also seeeehr lange Beine.

Das Moor zwischen Ptaci kupy und Holubnik.
An der Schutzhütte östlich vom Holubnik legte ich meine Mittagspause ein. Als Underfill-Prophylaxe gab es Kartoffelbrei (Pfanni „Bauernpüree“ mit Räucherspeck und Zwiebeln, aber ohne Geschmacksverstärker). Während ich dem Topf beim Kochen zuguckte, näherte sich schnaufend ein Mountainbiker. „Tapfer“, dachte ich, „mit 68 Jahren noch solche Wege zu fahren.“ Doch weit gefehlt. Bitter beklagte er sich, dass er keine Begleitung in seinem Alter mehr fände. Viele seien schon tot, die anderen zu klapprig. Und jetzt müsse er erstmal einen Kontrollanruf bei seiner Frau machen. Die hätte immer Angst, dass er mit seinen 78 Jahren irgendwann vom Fahrrad falle...
Während wir inzwischen bei den deutsch-tschechischen Beziehungen angekommen war und keine Probleme feststellen konnten, hörte ich plötzlich einen Zuruf von der Seite: „Jezismarja ahoj Matyasi, co tady delas?“ „Ja se zblaznim – Ludku!“ Mein guter Kumpel Ludek aus Prager Studienzeiten, mit Mountainbike unterwegs! Zufälle gibt es, die gibt es gar nicht. Ludek war etwas in Eile, denn seine Truppe war den direkten Weg zum nächsten Gasthaus gefahren, während er noch einen „schönen Umweg“ nehmen wollte und sich dabei etwas verschätzt hatte. Aber für einen kleinen Ausbruch über einen trägen Rechtsstaat, der ihn als kleinen Gewerbetreibenden hängen lässt, reichte es noch.
Irgendwann musste ich mich aber wieder auf den Weg machen. In Variation zur Stammtischtour umrundete ich diesmal den Smedavska hora, wo laut Karte eine Flugzeugabsturzstelle liegen sollte. Die fand ich auch: 1992 war hier zwei französische Sportmaschinen auf ienem Hilfsflug nach Osten zusammengestoßen und abgestürzt – alle vier Personen waren ums Leben gekommen. Der Gedenkstein spricht von einem Flug nach Polen, wikipedia.cz spricht von Weißrussland. Die Absturzstelle selbst war nicht erkennbar, nur ein Gedenkstein erinnert daran.
Von dem Rundweg, der dank Waldsterben auch eine tolle Aussicht ins Tal der Smeda und nach Hejnice bietet, schwenkte ich dann zur Siedlung Smedava ab. Freudig stellte ich fest, dass das Gasthaus geöffnet war – dieses Glück war chrischian am Tag darauf nicht beschieden. In Erinnerung an spärliche Knödelportionen in früheren Jahren bestellte ich zu meinem Svickova-Braten vorsichtshalber vier Knödelscheiben dazu. Und erhielt statt der erwarteten ingesamt acht Scheiben zwölf! Zum Glück keine unlösbare Aufgabe. („'Satt' kenne ich nicht – entweder ich habe Hunger oder mir ist schlecht!“
)
Inzwischen war es kurz nach sechs. Eigentlich wollte ich noch bis Jizerka vorstoßen, aber mit Blick auf die anstehende Dämmerung brach ich auf halber Strecke ab und suchte mir - diesmal noch bei Licht - ein Plätzchen im Wald. Etwas knifflig wurde es dadurch, dass der Weg von einigen Naturschutzgebieten gesäumt wurde. Im Gegensatz zur vorherigen Nacht schlief ich diesmal gut, obwohl ich eine dicke Wurzel übersehen hatte. Aber die NeoAir, die bei dieser Tour erstmals im scharfen Einsatz war, bügelt solche Fehler aus.
Technische Daten: 23,5 km in 9h 13'
3. Oktober
Um kurz nach zehn erreichte ich Jizerka. Das legendäre "Misthaus" von Gustav Ginzel, das vor der Wende ein legendärer Treffpunkt von Deutschen und Tschechen war, ist heute in Privathand. An die bewegte Vergangenheit erinnert noch nur ein verwaschener Wegweiser.
Eigentlich wollte ich mir in Jizerka ein zweites Frühstück gönnen, doch die Gasthäuser waren noch mit der Abfertigung ihrer Übernachtungsgäste beschäftigt. Also steuerte ich nach einer Schleife durch den Ort den Weg über den Bergrücken Richtung Smrk/Tafelfichte an. Und steckte bald in dichtem Nebel. Mystisch und bedeutungsschwanger tauchten die "Pytlacke kameny" (wörtlich: "Wilderersteine") aus dem Grau auf. Zusammen mit dem bunten Laub war der Anblick schon märchenhaft. Den Durchgang unter dem Felsen meisterte ich übrigens, ohne meine Schrankwand abnehmen zu müssen oder auf den Knien zu kriechen - ich glaube, dass chrischian hier etwas übertrieben hat.

Kurz hinter den Klippen hörte ich dann ein wohlbekanntes metallisches Klicken und Klacken aus dem Gebüsch. Ich blieb stehen und spitzte meine Ohrläppchen. Wieder Klick-klack. Und da waren auch schon zu sehen: Rote und gelbe Aluminiumrohre schwenkten über den Wipfeln der Latschenkiefern hin und her. Freundlich grüßte ich die tschechischen Wildcamper-Kollegen, die gerade unter Vernachlässigung jeglicher Konspiration ihre Hütten einklappten.
Anders, als die KCT-Karte vermuten lässt, ist der Weg auf dem Bergrücken überwiegend kein Trampelpfad, sondern Waldweg - auch wenn es den Wald in den vergangenen Jahrzehnten zu einem großen Teil weggeätzt hat. Ich bin allerdings zugegebenermaßen jemand, der einer wilden Landschaft von Baumruinen mehr abgewinnen kann als einer heilen Fichtenmonokultur.
Wer meinen Weg bis hierhin auf der Karte nachverfolgt hat, wird sich fragen, warum ich jetzt wieder in Richtung Nordwesten gehe statt das Iser-Tal auf kürzestem Weg nach Polen zu queren. Erstens: Das geht nicht. Es ist ein ziemlich breites Feuchtgebiet, um nicht zu sagen Moor. Und aus diesem Grund ist das obere Iser-Tal Naturschutzgebiet. Zweitens: Die Karte ließ vermuten, dass ich den besten Blick auf das Moor von der polnischen Seite aus haben würde. Und drittens wollte ich eigentlich auch noch den Gipfel der Tafelfichte mitnehmen - sofern er nicht im Nebel verschwand.
Das tat er aber, und so bog ich ein Stück unterhalb auf der Vidlicova cesta nach Osten ab. Ältere Karten ließen vermuten, dass der Weg nicht einfach an der Grenze endete, sondern weiterführte. Das hatte er vor sechzig Jahren sicherlich auch. Geblieben war eine unwegsame Schneise. Aber etwas unterhalb sollte vom Grenzweg noch ein weiterer Weg nach Osten abgehen. Das tat er auch. Ich war nicht der einzige, der nach Schengen diesen Weg wieder erschlossen hatte, wie Fuß- und Fahrradspuren verrieten. Eine recht feuchte Angelegenheit war es trotzdem, und so wechselte ich beim Erreichen des festen Weges erst einmal von TK1 auf Sealskinz. 

Der "Blick auf das Moor" war letztlich eine Enttäuschung, denn er wurde größtenteils von Wald versperrt.
Dafür gelangte ich an einen anderen gespenstischen Ort. Als ich das erste Ruinengrundstück passierte, dachte ich noch an einen Zufall. Doch je länger ich mein Fernglas schweifen ließ, desto mehr Fundamente wurden sichtbar, und der Zusammenhang mit der jüngeren Geschichte wurde klar. In den Highlands hatte ich schon zahlreiche tote Dörfer gesehen, aber das menschliche Drama dahinter war räumlich und zeitlich so weit weg, dass es immer abstrakt blieb. Aber diese Ruinen des früheren Groß-Iser waren nicht einmal ein Vierteljahrhundert vor meiner Geburt entstanden, und sie lagen mitten in Mitteleuropa. Groß-Iser hatte, wenn ich meinem Nachdruck der 1:100.000-Karte von 1936 glauben darf, rund 20 Häuser und besaß sogar eine eigene Schule. Die ist das einzige verbliebene Gebäude und fungiert heute als Gasthaus (Chatka Gorzystow), machte aber einen verschlossenen Eindruck, als ich vorbeikam. Zum Glück hatte ich an einem unverdächtigen Bach unterhalb der Tafelfichte Wasser gebunkert. 
Die schwindenden Futtervorräte, die ziemlich nassen Botten und die Vorschriften über den Nationalpark Riesengebirge ließen es sinnvoll erscheinen, diesmal innerhalb von Ortschildern unter einem festen Dach zu übernachten. Wohl jeder andere - na ja, außer "Sklaventreiber" chrischian vielleicht - hätte die Idee für bekloppt erklärt, an diesem Abend das noch elf km Luftlinie entfernte Schreiberhau/Szklarska Poreba anzusteuern. Sieht man von der Entfernung ab, die zu den bereits zugelegten +20 km hinzukommen würde, war die Kalkulation aber recht simpel: Das letzte rumpelige Wegstück würde ich noch vor Sonnenuntergang bewältigt haben. Die verbleibenden sieben km waren in der Karte als Radroute ausgeschildert, also auch im Dunkeln unproblematischer Untergrund. Dass ich mich auf diese Weise um den Weg über den vermutlich sehenswerten Wysoki Grzbiet ("Hoher Kamm") gebracht habe, konnte ich tolerieren - zumal er in einer Entfernung von Berlin liegt, die eine "Reparatur" noch vergleichsweise leicht zulässt.
Kurz bevor ich die Radroute von Harrachov über den Grenzübergang Neue Welt/Novy Svet nach Schreiberhau erreichte, kreuzte ich die Bahnlinie der gleichen Relation. Das dort nach 65 Jahren Pause seit Juli 2010 wieder Züge fahren, ist der EU zu verdanken: Sie hat den Wiederaufbau maßgeblich mitfinanziert. Zu Zeiten der "alten"Reichsbahn war die Strecke auf preußischer Seite sogar elektrifiziert, darauf hat man heute verzichtet.
Zu meiner großen Freude sah ich kurz darauf sogar noch einen Zug. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich mir mit etwas Fahrplanrecherche bequem die olle Asphaltlatscherei hätte sparen und stattdessen in Jakuszyce in eben diesen Zug nach Schreiberhau steigen können. 
Fantastisch bewährten sich an diesem Tag übrigens die nachgerüsteten Asics-Einlegesohlen. Sie haben für mich das Optimum an Federung und speichern anscheinende keinen Schweiß an der Oberfläche, sondern leiten ihn nach unten und in das Futter an den Seiten ab.
Um halb acht erreichte ich Schreiberhau. Doch was musste ich feststellen? Durch eine Veranstaltung waren fast alle halbwegs seriös und trotzdem preisgünstig anmutenden Unterkünfte ausgebucht. Erst am oberen Ortsende wurde ich für umgerechnet 40 Euro fündig. Bei dem, was ich über Nacht an Heizenergie verballert habe, um die Botten zu trocknen, war es dann aber auch wieder nicht zuviel. Das Frühstück konnte sich ebenfalls sehen lassen. Ich fand aber nicht heraus, was das Getuschel zwischen der Studentin an der Rezeption und der Chefin bei der Zimmerzuteilung zu bedeuten hatte: "Pan jest polski?" ("Ist der Herr Pole?") Hatte das "Nie" zur Folge, dass ich das Zimmer unter dem Dach bekam? Oder hatte es zur Folge, dass man mir ein Zimmer mit gemütlichem Teppich anvertraute statt mit leichter von ethanolinduziertem Würfelhusten zu reinigendem Laminat?
Technische Daten: 41 km in 10h 17'
4. Oktober
Am nächsten Morgen begrüßte mich blauer Himmel, lediglich über den gegenüberliegenden Riesengebirgskamm wälzte sich ununterbrochen Nebel. Den lächelte ich mit guter Laune weg. Noch. Denn genau dort wollte ich hin: Auf den Kamm, und dann möglichst bis zur Schneekoppe. 
Etwas irritiert war ich, dass ich am Eingang zum Nationalpark fünf Zloty (1,20 Euro) Eintritt zahlen sollte. Später wurde mir aber klar, dass es gut verwendetes Geld ist. In einer Stunde bewältigte ich trotz Schrankwand die 500 Meter Höhenunterschied zur Zwischenstation Mala Szrenica. Dort rüstete ich von T-Shirt + 100er-Fleece auf Windstopper-Fleece auf. 20 Minuten später hatte ich meinen ersten Riesengebirgsgipfel in der Tasche, die Wielka Szrenica. Zeit für einen kleinen Imbiss in der Gipelwirtschaft. Zu sehen gab es nicht viel, denn seit 1200 Metern steckte alles im Nebel.
Als ich die Gastwirtschaft verließ, blies mir der Wind mit geschätzt 50 km/h und 9 Grad Lufttemperatur und feinen Nebeltröpfchen genau ins Gesicht. Selbst ohne mathematische Windchill-Berechnung war mir klar, dass das nicht gut war. Nach nur 300 Metern legte ich daher im Schutz einer Klippe rundum Hartschale an. So war es deutlich besser. Allerdings schwenkte mein Weg bald rechtwinklig ab, und nun kam der Wind von der Seite.

Man beachte den Grenzstein oben auf der Klippe!
An diesem Tag war ich froh, nicht in traditioneller Konfiguration mit aufgeschnallter Evazote-Matte unterwegs zu sein. Trotzdem rüttelte mich der Wind auf dem baumlosen Kamm den ganzen Tag ganz schön durch. Mehr als einmal schob mich eine Windbö einen Meter seitlich aus der Bahn. Die wirklich haarigen Passagen, vor allem der unten abgebildete Damm aus nassen Steinblöcken, lagen zum Glück im Windschatten. So kam ich deutlich langsamer voran als erwartet - brutto nur knapp 3 km/h. Als es an der Spindlerova Bouda noch 9,5 km bis zur Schneekoppe waren, die Uhr aber Viertel nach vier anzeigte (gefühlte Viertel fünf :-)), entschloss ich mich zum Abbruch für diesen Tag.

Die Petrova bouda war auf Nimmerwiedersehen geschlossen. Die Spindlerova bouda fiel wegen ihrer vier Sterne und der Porsche Cayennes vor der Tür sofort aus der engeren Wahl. Vielleicht etwas zu achtlos passierte ich die Hinweisschilder zur Moravska bouda. Das nächste Gebäude, das mir passend erschien, entpuppte sich als Sanatorium des tschechischen Verteidigungsministeriums. Deswegen wohl auch die vielen Raucher vor der Tür.
Ein Gruppe deutscher Rentner empfahl mir schließlich die Erlebachova bouda. Umgerechnet 25 Euro für ein riesiges nagelneues Einbettzimmer und Westniveau rundum waren nicht zuviel. Und spätestens beim Frühstücksbüffet ... aber lassen wir das, ist ja sowieso klar. Ich war vermutlich der einzige Fußreisende, den Rest der Gäste stellten deutsche und tschechische Mittelschicht. Es ist beruhigend zu sehen, dass unser südöstliches Nachbarland offenbar die Kurve zum Wohlstand für alle gekriegt hatte. Bis zur Jahrtausendwende sah es eher so aus, als würde das Land zu russischen Verhältnissen mit wenigen Superreichen und einer armen Mehrheitsbevölkerung tendieren.
Abendessen gab es in der Josefova bouda, die dem gleichen Eigentümer gehört. Etwas schräg fand ich nur den Hinweis, dass Niesky 153 km entfernt ist. Mal ehrlich: Niesky! OT: Vielleicht gelingt es mir, mit gezielter Städtebeschimpfung noch ein paar potenzielle Sachsenstammtisch-Teilnehmer aus der Deckung zu locken?
Technische Daten: 22,7 km in 6h 40'
5. Oktober
7:10 Immer noch Nebel? Ja. Und auch noch Regen. Da drehe ich mich lieber noch einmal um.
8:00 Der Regen hat aufgehört, aber der Nebel nicht. Warum piepst der blöde Wecker eigentlich?
8:55 Beim Frühstück reißt der Nebel einige Sekunden auf und es ist blauer Himmel zu sehen.
9:40 Aufbruch. Der Nebel ist wieder da, aber der Wind ist so gemäßigt, dass die Windstopper-Jacke bald in der Schrankwand verschwindet.

11:00 Die Poledni kameny ("Mittagssteine") heißen auf Polnisch zu Recht "Slonecznik" (Sonnen-Irgendwas), denn hier kommt die Sonne durch und sorgst zusammen mit dem Dunst für eine zauberhafte Stimmung. Wie überhaupt der Wechsel zwischen Nebel und blauem Himmel für surrealistische Ansichten sorgt.

Ein Caspar David Friedrich hätte es kaum besser auf die Spitze treiben können.
Wie hätte ich den Tag wohl beurteilt, wenn ich früher aufgebrochen wäre? OT: Vor diesem Hintergrund schreibe ich ein Glas Nutella für denjenigen aus, der das Sprichwort "Morgenstund' hat Gold im Mund" am besten auf Spätaufsteher umdichtet. Vorschläge hier im Forum oder per PN, der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Um kurz vor ein Uhr erreiche ich die Schneekoppe/Snezka/Sniezka, mit 1602 m der höchste deutsche Mittelgebirgsgipfel - wie meine Eltern in der Schule lernten. Leider lässt sich der Nebel nicht dazu herab, mir eine Aussicht zu spendieren. Zur Strafe esse ich Zemniaczki s czosnkowym sosem. Weniger exotisch ausgedrückt sind es Western-Kartoffeln mit Knoblauchdip. Danach gab es wenigstens Grund für den Nebel.

Das höchstgelegene tschechische Postamt. Auf Stelzen wohl deshalb, damit es auch im Winter bei hohem Schnee zugänglich ist.
Der Nebel wurde in der Tat immer dichter und nasser. Ich verkniff mir den Kammweg über Czarne Czolo und lief direkt zum Pass von Horni Mala Upa. Dort besiegte ich den inneren Schweinehund, der mir eine Einkehr aufschwätzen wollte. Ich wollte bis zum Abend auch die zweite Zone des Nationalparks verlassen haben. Auf der Ostseite des Kamms, von der man bei gutem Wetter sicherlich einen tollen Blick in den Glatzer Kessel gehabt hätte, bretterte ich nach Süden.
Doch wo war der gelbe Pfad geblieben, auf dem ich wieder auf die tschechische Seite zurückstoßen wollte? Rein theoretisch an diesem Bachbett, das mit querliegenden Holzbalken offenbar gegen Erosion befestigt worden war. Ich folgte einigen vagen Fußspuren. Wider Erwarten hörten sie nicht auf. Und das Bachbett stellte sich als der Weg heraus. Denn warum sollte man einen Bach auf der Wasserscheide befestigen? Das war schon schräg, sehr schräg. 
Schließlich landete ich wieder auf dem Grenzweg. Die Nebelnässe war inzwischen in Sprühregen übergegangen, das nasse Gras hatte seine Wasseranhaftungen ins Stiefelinnere befördert, ich war immer noch im Nationalpark, und überhaupt hatte ich nach dem Komfort der letzten Nacht Geschmack an einem ordentlichen Bett gefunden. Das Hotel "Stara celnice" in Horni Alberice schien laut Karte genau die richtige Adresse zu sein.
Doch in Horni Alberice sah es aus, als hätte eine Neutronenbombe eingeschlagen: Vor den Wochenendhäusern standen Autos, aber nirgends war Licht. Das Hotel forderte auf einer Kreidetafel noch auf, in den Biergarten hinter das Haus zu kommen, aber dort standen nur die Türen offen. Im Hotel selbst war alles dunkel.
Im letzten Licht konsultierte ich die Karte, wo wohl noch am ehesten ein ebener Stellplatz zu finden sein würde. Vielleicht direkt im Wald auf dem Kamm, quasi auf der Grenze? Also wieder einen Kilometer zurück und 100 Meter hoch. Um so überraschter war ich, als sich aus dem Nebeldunkel ein kleines Spitzdach herausschälte, wo keines sein sollte. Eventuell die Grenzerhütte aus Zeiten des Kleinen Grenzverkehrs vor Schengen? Nein. Es war wie ein Sechser im Lotto: Eine Vier-Sterne-Schutzhütte. Bis auf ein wenig Mäusekacke tipp-topp.

Technische Daten: 27,5 km in 9h 17'
Fortsetzung
1. Oktober
Wie gewohnt nutzte ich den ersten Eurocity nach Dresden für einen schönen Bahnschlaf. Von Dresden ging es nach Zittau, von Zittau nach Liberec/Reichenberg. Nicht, um dort zu starten, sondern um noch einige fehlende Landkarten nachzukaufen. Mit dem nächsten Zug fuhr ich zurück nach Chrastava.*
*) Der leichteren Nachverfolgbarkeit auf den heutigen Karten zuliebe werde ich in erster Linie die tschechischen bzw. polnischen Bezeichnungen verwenden – obwohl mir klar ist, dass es sich häufig um bloße Übersetzungen der deutschen Ortsbezeichnungen früher mehrheitlich deutschsprachig besiedelter Gebiete handelt.
[Frakturschrift ein]Ja ist es denn schon wieder soweit? Zwei Züge aus dem Altreich begegnen sich in Kratzau (Sudetengau)


Ein ausgespülter Waldweg oberhalb von Chrastava.
Es war halb zwei, als ich endlich startete. Natürlich ging es erst einmal bergauf, und ich war froh, dass mich der Sonnenuntergang gegen 18:30 davor bewahren würde, mir gleich am ersten Tag einen Muskelkater einzufangen. Kurz vor dem schon in Polen liegenden Granizcny Wierch schwenkte ich auf dem Kamm auf einen grün markierten Weg ein, der sich hier hochtrabend als Teil des „Neuen Kammwegs“ bezeichnete. EU-Förderung hat es möglich gemacht, Wanderwege vom Zittauer Gebirge bis ins Riesengebirge zusammenzuführen und baulich nachzurüsten. Auf weiten Teilen der nächsten 40 km hätte er nach deutschem Standard Premium-Status verdient. In der Praxis wäre er allerdings nie Premium-Weg geworden, weil er zu wenig Orte anläuft.
In dieser Gastwirtschaft begann für mich den Urlaub dann wirklich: Im Raucher-Vorraum hatte sich eine Gruppe tschechischer "Tramps" mit ihrer Gitarre niedergelassen und spielten all die Lagerfeuer-Lieder aus meiner Prager Studienzeit, von Jizni kriz bis Ruze z papiru, von Montgomery bis Tisic mil... Für die Nichteingeweihten: „Tramps“ (oder Trampove) sind eine wohl spezifisch tschechische Form von informellem Pfadfindertum. Ein christlicher Hintergrund ist ihnen fremd, dafür haben sie ein unverkrampftes Verhältnis zu Alkohol und anderen Betäubungsmitteln. Die Tramps kommen aus allen Bevölkerungsschichten mit Ausnahme der Wochenendhausbesitzer.
In der letzten Dämmerung brach ich wieder auf, um einen Platz für meine liebe Schildkröte Hogan zu suchen – natürlich erst hinter dem Naturschutzgebiet (Narodni prirodni rezervace). In der Nacht wurde ich mehrfach wach, weil der Wind mit Getöse durch Buchen über mir rauschte. Eine Autobahn macht wenigstens gleichmäßiges Rauschen, wie ich seit der WAI-Übergabe in Pirk weiß.
Technische Daten: 20,6 km in 6h 50' (brutto)
2. Oktober
Was sich abends im Licht der Fenix als undurchsichtiges Gebüsch präsentiert hatte, entpuppte sich am Morgen als mageres Zweigewerk. Um halb neun erblickte ich durch das Moskitonetz die ersten Pilzsammler; die waren jedoch diskret genug so zu tun, als hätten sie mich nicht gesehen.
Das Wildcampen ist offiziell natürlich genauso verboten wie in Deutschland. Andererseits gibt es auch eine jahrzehntealte Kultur der Toleranz des unreglementierten Outdoorlebens. Ich rede hier nicht vom Minimal-Impact-Einmalcampen, sondern vom Phänomen der „Trampska osada“ (wörtlich: Tramp-Siedlung): Das sind feste Lagerplätze von Tramp-Cliquen tief im Wald. Häufig luxuriös ausgestattet mit Unterstand, Feuerstelle, Bänken, einem Kühlfach für Getränke im nächsten Bach und einer schwerkraftgetriebenen Toilette. Auch die Truppe, die ich am Abend zuvor im Gasthaus gesehen hatte, war der Ausstattung nach zu urteilen auf dem Weg in den Wald. "Ultralight" ist von diesen Kunden niemand unterwegs; Kriterium für zweckmäßige Ausstattung ist eher eine kostengünstige Resistenz gegen Funkenflug und Dreck. Womit die meisten bei abgelegten Armeeklamotten aus Baumwolle landen und das Erscheinungsbild eher an Freischärlerbanden erinnert.

Schließlich landete ich aber doch wieder auf eine Schotter- und Asphaltpiste. Eine gewisse Entschädigung war, dass ich kurz darauf auf einen geöffneten Imbiss stieß. Das gut gekühlte Radegast Birell – meiner Ansicht nach das beste nicht-herbe alkoholfreie Pils Mitteleuropas – war das i-Tüpfelchen. Womit auch erklärt wäre, warum ich ohne viel Zögern auf die Mitnahme eines Filters verzichtet hatte: Die Getränkeversorgung ist in Ostmitteleuropa immer gesichert.

Das Moor zwischen Ptaci kupy und Holubnik.
An der Schutzhütte östlich vom Holubnik legte ich meine Mittagspause ein. Als Underfill-Prophylaxe gab es Kartoffelbrei (Pfanni „Bauernpüree“ mit Räucherspeck und Zwiebeln, aber ohne Geschmacksverstärker). Während ich dem Topf beim Kochen zuguckte, näherte sich schnaufend ein Mountainbiker. „Tapfer“, dachte ich, „mit 68 Jahren noch solche Wege zu fahren.“ Doch weit gefehlt. Bitter beklagte er sich, dass er keine Begleitung in seinem Alter mehr fände. Viele seien schon tot, die anderen zu klapprig. Und jetzt müsse er erstmal einen Kontrollanruf bei seiner Frau machen. Die hätte immer Angst, dass er mit seinen 78 Jahren irgendwann vom Fahrrad falle...
Während wir inzwischen bei den deutsch-tschechischen Beziehungen angekommen war und keine Probleme feststellen konnten, hörte ich plötzlich einen Zuruf von der Seite: „Jezismarja ahoj Matyasi, co tady delas?“ „Ja se zblaznim – Ludku!“ Mein guter Kumpel Ludek aus Prager Studienzeiten, mit Mountainbike unterwegs! Zufälle gibt es, die gibt es gar nicht. Ludek war etwas in Eile, denn seine Truppe war den direkten Weg zum nächsten Gasthaus gefahren, während er noch einen „schönen Umweg“ nehmen wollte und sich dabei etwas verschätzt hatte. Aber für einen kleinen Ausbruch über einen trägen Rechtsstaat, der ihn als kleinen Gewerbetreibenden hängen lässt, reichte es noch.
Irgendwann musste ich mich aber wieder auf den Weg machen. In Variation zur Stammtischtour umrundete ich diesmal den Smedavska hora, wo laut Karte eine Flugzeugabsturzstelle liegen sollte. Die fand ich auch: 1992 war hier zwei französische Sportmaschinen auf ienem Hilfsflug nach Osten zusammengestoßen und abgestürzt – alle vier Personen waren ums Leben gekommen. Der Gedenkstein spricht von einem Flug nach Polen, wikipedia.cz spricht von Weißrussland. Die Absturzstelle selbst war nicht erkennbar, nur ein Gedenkstein erinnert daran.
Von dem Rundweg, der dank Waldsterben auch eine tolle Aussicht ins Tal der Smeda und nach Hejnice bietet, schwenkte ich dann zur Siedlung Smedava ab. Freudig stellte ich fest, dass das Gasthaus geöffnet war – dieses Glück war chrischian am Tag darauf nicht beschieden. In Erinnerung an spärliche Knödelportionen in früheren Jahren bestellte ich zu meinem Svickova-Braten vorsichtshalber vier Knödelscheiben dazu. Und erhielt statt der erwarteten ingesamt acht Scheiben zwölf! Zum Glück keine unlösbare Aufgabe. („'Satt' kenne ich nicht – entweder ich habe Hunger oder mir ist schlecht!“

Inzwischen war es kurz nach sechs. Eigentlich wollte ich noch bis Jizerka vorstoßen, aber mit Blick auf die anstehende Dämmerung brach ich auf halber Strecke ab und suchte mir - diesmal noch bei Licht - ein Plätzchen im Wald. Etwas knifflig wurde es dadurch, dass der Weg von einigen Naturschutzgebieten gesäumt wurde. Im Gegensatz zur vorherigen Nacht schlief ich diesmal gut, obwohl ich eine dicke Wurzel übersehen hatte. Aber die NeoAir, die bei dieser Tour erstmals im scharfen Einsatz war, bügelt solche Fehler aus.
Technische Daten: 23,5 km in 9h 13'
3. Oktober

Eigentlich wollte ich mir in Jizerka ein zweites Frühstück gönnen, doch die Gasthäuser waren noch mit der Abfertigung ihrer Übernachtungsgäste beschäftigt. Also steuerte ich nach einer Schleife durch den Ort den Weg über den Bergrücken Richtung Smrk/Tafelfichte an. Und steckte bald in dichtem Nebel. Mystisch und bedeutungsschwanger tauchten die "Pytlacke kameny" (wörtlich: "Wilderersteine") aus dem Grau auf. Zusammen mit dem bunten Laub war der Anblick schon märchenhaft. Den Durchgang unter dem Felsen meisterte ich übrigens, ohne meine Schrankwand abnehmen zu müssen oder auf den Knien zu kriechen - ich glaube, dass chrischian hier etwas übertrieben hat.

Kurz hinter den Klippen hörte ich dann ein wohlbekanntes metallisches Klicken und Klacken aus dem Gebüsch. Ich blieb stehen und spitzte meine Ohrläppchen. Wieder Klick-klack. Und da waren auch schon zu sehen: Rote und gelbe Aluminiumrohre schwenkten über den Wipfeln der Latschenkiefern hin und her. Freundlich grüßte ich die tschechischen Wildcamper-Kollegen, die gerade unter Vernachlässigung jeglicher Konspiration ihre Hütten einklappten.
Anders, als die KCT-Karte vermuten lässt, ist der Weg auf dem Bergrücken überwiegend kein Trampelpfad, sondern Waldweg - auch wenn es den Wald in den vergangenen Jahrzehnten zu einem großen Teil weggeätzt hat. Ich bin allerdings zugegebenermaßen jemand, der einer wilden Landschaft von Baumruinen mehr abgewinnen kann als einer heilen Fichtenmonokultur.
Wer meinen Weg bis hierhin auf der Karte nachverfolgt hat, wird sich fragen, warum ich jetzt wieder in Richtung Nordwesten gehe statt das Iser-Tal auf kürzestem Weg nach Polen zu queren. Erstens: Das geht nicht. Es ist ein ziemlich breites Feuchtgebiet, um nicht zu sagen Moor. Und aus diesem Grund ist das obere Iser-Tal Naturschutzgebiet. Zweitens: Die Karte ließ vermuten, dass ich den besten Blick auf das Moor von der polnischen Seite aus haben würde. Und drittens wollte ich eigentlich auch noch den Gipfel der Tafelfichte mitnehmen - sofern er nicht im Nebel verschwand.

Der "Blick auf das Moor" war letztlich eine Enttäuschung, denn er wurde größtenteils von Wald versperrt.


Die schwindenden Futtervorräte, die ziemlich nassen Botten und die Vorschriften über den Nationalpark Riesengebirge ließen es sinnvoll erscheinen, diesmal innerhalb von Ortschildern unter einem festen Dach zu übernachten. Wohl jeder andere - na ja, außer "Sklaventreiber" chrischian vielleicht - hätte die Idee für bekloppt erklärt, an diesem Abend das noch elf km Luftlinie entfernte Schreiberhau/Szklarska Poreba anzusteuern. Sieht man von der Entfernung ab, die zu den bereits zugelegten +20 km hinzukommen würde, war die Kalkulation aber recht simpel: Das letzte rumpelige Wegstück würde ich noch vor Sonnenuntergang bewältigt haben. Die verbleibenden sieben km waren in der Karte als Radroute ausgeschildert, also auch im Dunkeln unproblematischer Untergrund. Dass ich mich auf diese Weise um den Weg über den vermutlich sehenswerten Wysoki Grzbiet ("Hoher Kamm") gebracht habe, konnte ich tolerieren - zumal er in einer Entfernung von Berlin liegt, die eine "Reparatur" noch vergleichsweise leicht zulässt.
Kurz bevor ich die Radroute von Harrachov über den Grenzübergang Neue Welt/Novy Svet nach Schreiberhau erreichte, kreuzte ich die Bahnlinie der gleichen Relation. Das dort nach 65 Jahren Pause seit Juli 2010 wieder Züge fahren, ist der EU zu verdanken: Sie hat den Wiederaufbau maßgeblich mitfinanziert. Zu Zeiten der "alten"Reichsbahn war die Strecke auf preußischer Seite sogar elektrifiziert, darauf hat man heute verzichtet.

Fantastisch bewährten sich an diesem Tag übrigens die nachgerüsteten Asics-Einlegesohlen. Sie haben für mich das Optimum an Federung und speichern anscheinende keinen Schweiß an der Oberfläche, sondern leiten ihn nach unten und in das Futter an den Seiten ab.
Um halb acht erreichte ich Schreiberhau. Doch was musste ich feststellen? Durch eine Veranstaltung waren fast alle halbwegs seriös und trotzdem preisgünstig anmutenden Unterkünfte ausgebucht. Erst am oberen Ortsende wurde ich für umgerechnet 40 Euro fündig. Bei dem, was ich über Nacht an Heizenergie verballert habe, um die Botten zu trocknen, war es dann aber auch wieder nicht zuviel. Das Frühstück konnte sich ebenfalls sehen lassen. Ich fand aber nicht heraus, was das Getuschel zwischen der Studentin an der Rezeption und der Chefin bei der Zimmerzuteilung zu bedeuten hatte: "Pan jest polski?" ("Ist der Herr Pole?") Hatte das "Nie" zur Folge, dass ich das Zimmer unter dem Dach bekam? Oder hatte es zur Folge, dass man mir ein Zimmer mit gemütlichem Teppich anvertraute statt mit leichter von ethanolinduziertem Würfelhusten zu reinigendem Laminat?
Technische Daten: 41 km in 10h 17'
4. Oktober

Etwas irritiert war ich, dass ich am Eingang zum Nationalpark fünf Zloty (1,20 Euro) Eintritt zahlen sollte. Später wurde mir aber klar, dass es gut verwendetes Geld ist. In einer Stunde bewältigte ich trotz Schrankwand die 500 Meter Höhenunterschied zur Zwischenstation Mala Szrenica. Dort rüstete ich von T-Shirt + 100er-Fleece auf Windstopper-Fleece auf. 20 Minuten später hatte ich meinen ersten Riesengebirgsgipfel in der Tasche, die Wielka Szrenica. Zeit für einen kleinen Imbiss in der Gipelwirtschaft. Zu sehen gab es nicht viel, denn seit 1200 Metern steckte alles im Nebel.
Als ich die Gastwirtschaft verließ, blies mir der Wind mit geschätzt 50 km/h und 9 Grad Lufttemperatur und feinen Nebeltröpfchen genau ins Gesicht. Selbst ohne mathematische Windchill-Berechnung war mir klar, dass das nicht gut war. Nach nur 300 Metern legte ich daher im Schutz einer Klippe rundum Hartschale an. So war es deutlich besser. Allerdings schwenkte mein Weg bald rechtwinklig ab, und nun kam der Wind von der Seite.
Man beachte den Grenzstein oben auf der Klippe!

An diesem Tag war ich froh, nicht in traditioneller Konfiguration mit aufgeschnallter Evazote-Matte unterwegs zu sein. Trotzdem rüttelte mich der Wind auf dem baumlosen Kamm den ganzen Tag ganz schön durch. Mehr als einmal schob mich eine Windbö einen Meter seitlich aus der Bahn. Die wirklich haarigen Passagen, vor allem der unten abgebildete Damm aus nassen Steinblöcken, lagen zum Glück im Windschatten. So kam ich deutlich langsamer voran als erwartet - brutto nur knapp 3 km/h. Als es an der Spindlerova Bouda noch 9,5 km bis zur Schneekoppe waren, die Uhr aber Viertel nach vier anzeigte (gefühlte Viertel fünf :-)), entschloss ich mich zum Abbruch für diesen Tag.

Ein Gruppe deutscher Rentner empfahl mir schließlich die Erlebachova bouda. Umgerechnet 25 Euro für ein riesiges nagelneues Einbettzimmer und Westniveau rundum waren nicht zuviel. Und spätestens beim Frühstücksbüffet ... aber lassen wir das, ist ja sowieso klar. Ich war vermutlich der einzige Fußreisende, den Rest der Gäste stellten deutsche und tschechische Mittelschicht. Es ist beruhigend zu sehen, dass unser südöstliches Nachbarland offenbar die Kurve zum Wohlstand für alle gekriegt hatte. Bis zur Jahrtausendwende sah es eher so aus, als würde das Land zu russischen Verhältnissen mit wenigen Superreichen und einer armen Mehrheitsbevölkerung tendieren.
Abendessen gab es in der Josefova bouda, die dem gleichen Eigentümer gehört. Etwas schräg fand ich nur den Hinweis, dass Niesky 153 km entfernt ist. Mal ehrlich: Niesky! OT: Vielleicht gelingt es mir, mit gezielter Städtebeschimpfung noch ein paar potenzielle Sachsenstammtisch-Teilnehmer aus der Deckung zu locken?
Technische Daten: 22,7 km in 6h 40'
5. Oktober
7:10 Immer noch Nebel? Ja. Und auch noch Regen. Da drehe ich mich lieber noch einmal um.
8:00 Der Regen hat aufgehört, aber der Nebel nicht. Warum piepst der blöde Wecker eigentlich?
8:55 Beim Frühstück reißt der Nebel einige Sekunden auf und es ist blauer Himmel zu sehen.
9:40 Aufbruch. Der Nebel ist wieder da, aber der Wind ist so gemäßigt, dass die Windstopper-Jacke bald in der Schrankwand verschwindet.
11:00 Die Poledni kameny ("Mittagssteine") heißen auf Polnisch zu Recht "Slonecznik" (Sonnen-Irgendwas), denn hier kommt die Sonne durch und sorgst zusammen mit dem Dunst für eine zauberhafte Stimmung. Wie überhaupt der Wechsel zwischen Nebel und blauem Himmel für surrealistische Ansichten sorgt.

Wie hätte ich den Tag wohl beurteilt, wenn ich früher aufgebrochen wäre? OT: Vor diesem Hintergrund schreibe ich ein Glas Nutella für denjenigen aus, der das Sprichwort "Morgenstund' hat Gold im Mund" am besten auf Spätaufsteher umdichtet. Vorschläge hier im Forum oder per PN, der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Das höchstgelegene tschechische Postamt. Auf Stelzen wohl deshalb, damit es auch im Winter bei hohem Schnee zugänglich ist.
Der Nebel wurde in der Tat immer dichter und nasser. Ich verkniff mir den Kammweg über Czarne Czolo und lief direkt zum Pass von Horni Mala Upa. Dort besiegte ich den inneren Schweinehund, der mir eine Einkehr aufschwätzen wollte. Ich wollte bis zum Abend auch die zweite Zone des Nationalparks verlassen haben. Auf der Ostseite des Kamms, von der man bei gutem Wetter sicherlich einen tollen Blick in den Glatzer Kessel gehabt hätte, bretterte ich nach Süden.

Schließlich landete ich wieder auf dem Grenzweg. Die Nebelnässe war inzwischen in Sprühregen übergegangen, das nasse Gras hatte seine Wasseranhaftungen ins Stiefelinnere befördert, ich war immer noch im Nationalpark, und überhaupt hatte ich nach dem Komfort der letzten Nacht Geschmack an einem ordentlichen Bett gefunden. Das Hotel "Stara celnice" in Horni Alberice schien laut Karte genau die richtige Adresse zu sein.

Im letzten Licht konsultierte ich die Karte, wo wohl noch am ehesten ein ebener Stellplatz zu finden sein würde. Vielleicht direkt im Wald auf dem Kamm, quasi auf der Grenze? Also wieder einen Kilometer zurück und 100 Meter hoch. Um so überraschter war ich, als sich aus dem Nebeldunkel ein kleines Spitzdach herausschälte, wo keines sein sollte. Eventuell die Grenzerhütte aus Zeiten des Kleinen Grenzverkehrs vor Schengen? Nein. Es war wie ein Sechser im Lotto: Eine Vier-Sterne-Schutzhütte. Bis auf ein wenig Mäusekacke tipp-topp.
Technische Daten: 27,5 km in 9h 17'
Fortsetzung
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