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Inhaltsverzeichnis:
Erster Tag
an dem der livländische Graf* sich beim Ortsvorsteher zum Kaffee einlädt und mit dessen Sohn die Frage des Wildcampens klärt, im Walde von zwei Freifrauen einen Schluck Pfefferminzöl dargereicht bekommt und sich zum Abend in ein Gesindehaus flüchtet.
Zweiter Tag
an dem derselbe Graf fürs Duschen getadelt wird, unter den Augen der Polizei eine Currywurst verzehrt, abends ziemlich erschossen aussieht und ein Gespräch über den Tod von James Dean belauscht.
Dritter Tag
an dem nicht mehr viel geschieht, außer dass sich eine Ente menschlich tief enttäuscht vom Grafen abwendet und sich der Regenschutz wieder einmal als Trainingsgewicht erweist.
*Über den Fernwanderer Johann Gottfried Seume heißt es irgendwo in den unendlichen Weiten des Netzes: »Seit 1790 Erzieher des livländischen Grafen Gustav Andreas Otto von Igelström.« Thanks to Pfad-Finder.
Erster Tag (Pfingstmontag, 20. Mai 2013)
Das Pfingstwochenende neigt sich dem Ende zu. Das scheint mir ein guter Zeitpunkt, um zu einer Forschungsreise in die Uckermark aufzubrechen. Ich packe also mein NATO-Ränzlein, leider ohne einen Blick in meine Packliste zu werfen, und schnüre meine noch keineswegs eingelaufenen transatlantischen Heldenstiefel, von denen ein frecher Freund (und frivoler Fortschrittsfeind) behauptet, sie sähen aus, als hätten sie einem Yps-Heft beigelegen oder seien aus einem Kaugummi-Automaten gezogen worden. Indessen: Belleville 390 Desert USGI military army combat boots und so weiter – das klingt doch wie The few, the proud, the Marines; kann man ja gar nicht meckern.
Und irgendwann müssen sie doch eingelaufen werden. Die Risiken sind mir bewusst, von den Unbilden später mehr. Zuhause scheint es zunächst, als könnte sich die Schnürung im Bereich des Mittelfußes als Problem erweisen, aber dieser Schmerz verschwindet beim Laufen bald. Das Problem ist das flache Fußbett und die relativ weiche, bodensensible Vibram-Sohle. Das ist ungewohnt und zeitigt Folgen.
Ich fahre um die Mittagszeit mit dem Zug nach Angermünde, um von dort nach Westen zu laufen, im Kopf eine grobe Routenplanung mit Altkünkendorf und Poratz als ersten Fixpunkten. Wie weit ich jeweils komme, ist ja egal, wenn ich in der freien Landschaft schlafe. Denke ich mir jedenfalls.

Beim Hinauslaufen aus der Stadt bemerke ich, dass ich unsichtbar bin. Das kann in Brandenburg immer mal passieren und vergeht später wieder. Man bemerkt es daran, dass man nicht zurückgegrüßt wird, wenn man jemanden grüßt. Bis zum Rastplatz am Ortsrand geschieht das mehrmals; von Gegenbeispielen ist nichts zu berichten. Man würde das vielleicht überall auf der Welt als Affront empfinden, aber hier in Brandenburg sieht man den Menschen an, dass sie es gar nicht böse meinen. Sie nehmen mich eben nicht wahr, auch wenn ich in fünfzig Zentimeter Abstand an ihnen vorbeilaufe und Guten Tag sage. Be prepared, wenn Du in Brandenburg wanderst.
Am Ortsrand hört das mit den Menschen auf und die ersten stechlustigen Flugsaurier stürzen sich auf den Wanderer. Und wie falsch war es, beim Packen keinen Blick in die Liste zu werfen! Das Mückenspray ist daheimgeblieben. Vielleicht, so denke ich, wird es ja ausreichen, sich für die Nacht einen möglichst windigen Platz zu suchen.
Also weiter jetzt. Der vermeintliche Wanderweg nach Altkünkendorf ist ein Pfad entlang einer allerdings wenig befahrenen Straße. Man sieht das auf dem folgenden Bild.

Die Topographische Freizeitkarte 1:50 000 des Landesvermessungsamtes ist, wie sich hier bereits andeutet und im weiteren Verlauf bestätigt, zum Wandern nicht besonders gut geeignet. Man kann nämlich den in verschiedenen Farben fett markierten Qualitätswegen zumindest auf den ersten Blick nicht ansehen, ob es sich um Fahrradrouten oder Wanderwege handelt; dazu ist schon etwas mehr Kartenhermeneutik erforderlich. Aber selbst die nichttouristische Basiskennzeichnung lässt nicht immer erkennen, ob es sich um einen befahrbaren Forstweg oder um eine Asphaltstraße handelt. So gerät man dann immer mal auf kilometerlange Asphaltstrecken.
Zudem häufen sich an manchen Stellen auf der Karte die plakativen, sozusagen Erlebnisdichte vortäuschenden touristischen Markierungen so, dass man den wahren Wegeverlauf nur noch vage erahnen kann. Man spürt die Absicht. Die Tourismuskonzepte entwerfen die Uckermark als Natur- und Kulturerlebnislandschaft. Wenn man vorn Erlebnis zufüttert, wird hinten irgendwo Wertschöpfung herauskommen.
Bei Kilometer 6,3 biege ich von der Straße in einen schönen Feldweg ab, der gewusst haben muss, dass ich diesmal mit Wüstenstiefeln komme.

Vom Waldrand geht der Blick weit über die frühsommerlichen Felder.


Später verliert sich der eingezeichnete Weg, und während sich rechts für kurze Zeit der Wolletzsee zeigt, muss ich schließlich mit dem Kompass navigieren, denn das Zwischenziel Altkünkendorf bleibt hinter den Hügeln einstweilen unsichtbar. Ich laufe parallel zu einem Gehölzstreifen in einer Traktorenspur über das Getreidefeld, komme aber letztlich an der richtigen Stelle am Rand des Dorfes heraus.
Altkünkendorf (Kilometer 9,0) hat seinen Erlebniswert gleichsam von der UNESCO verliehen bekommen; der naturnahe Buchenwald ist Weltnaturerbe. Ganz leicht zu vermarkten ist das freilich nicht, denn man muss eben immer noch hinlaufen, und damit man dann nicht nur Bäume sieht, werden geführte Wanderungen angeboten. Dagegen ist selbstverständlich nichts zu sagen, es soll auch nicht so klingen. Einerseits war das Wissen um das Weltnaturerbe für mich ein vager Anlass, hier vorbeizulaufen, andererseits plane ich das organisierte Erlebnis normalerweise nicht ein, so dass ich in diesem Fall den fraglichen Wald mangels geeigneten Zufalls nicht zu Gesicht bekomme.
Stattdessen geschieht etwas anderes. Während ich nämlich vor der Kirche sitze, werde ich von einem (wie soll ich sagen?) alerten älteren Herrn angesprochen, und während wir ein paar Worte über meinen Wanderplan wechseln, taucht noch ein Berliner Tagestouristenpaar auf, das nach einem ja immerhin denkbaren, aber letztlich doch nicht vorhandenen Café fragt.
Der alerte Herr ist der Ortsvorsteher, und der Auftritt endet damit, dass wir uns alle drei bei ihm zuhause auf der Terrasse zu Kaffee und Rhabarberkuchen einfinden. Man muss sich dabei einen sehr gepflegten weitläufigen Eigenheimgarten mit weitem Landschaftsausblick vorstellen. Das Gespräch geht über das Weltnaturerbe, über Tourismuskonzepte, über den jährlichen Schorfheide-Marathon, über die Entwicklung des Dorfes – und nebenbei auch über das Wildcampen. Unser Gastgeber ist nämlich der Meinung, dass man ja in Deutschland im Wald zelten dürfe. Sein Sohn, der Rechtsanwalt, von dem diese Überzeugung ursprünglich stammt, konsultiert auf allfällige Einwände hin noch einmal seine handliche Taschenausgabe des Brandenburgischen Waldgesetzes, um abschließend festzustellen, dass die dort verzeichnete Gestattungsregelung für Wanderer freilich nicht praktikabel sei: Der Waldbesitzer darf eine Erlaubnis erteilen, die er der unteren Forstbehörde anzuzeigen hat.
Beim Wandern in diesen Tagen wird aber auch schnell klar, wieso es in dieser Frage keine selbstverständliche allgemeine Rechtskenntnis gibt: Der Konfliktfall ist zu selten. Wanderer mit Übernachtungsausrüstung trifft man nirgends, und auch die Radfahrer, die ich unterwegs gelegentlich sehe, sind ausnahmslos ohne Reisegepäck unterwegs.
Es ist siebzehn Uhr, als wir uns verabschieden und ich mich in Richtung Poratz auf den Weg mache.
Der Weg führt über die Glambecker Mühle nach Glambeck (Kilometer 13,6) und kreuzt dabei die A 11 (Berlin – Stettin).

Am Heiligen See hinter Altkünkendorf

Autobahn A 11

Noch jemand ist zu Fuß unterwegs.

Fachwerkkirche in Glambeck

Innenansicht

Rastplatz

Bilderrätsel? Zur Not könnte man darin übernachten.
Hinter Glambeck laufe ich noch eine Weile auf einer Asphaltstraße in Autobahnnähe nach Norden, bevor ich im Wald verschwinde. Wieder einmal zeigt sich, dass bei diesem Kartenmaßstab in Waldgebieten ohne markante Geländepunkte die Wegezeichnung nicht genau genug ist, um ohne Kompass die gewünschte Route zu finden. Einmal biege ich falsch ab und nehme erst die Begegnung mit einer kleinen Wildschweinrotte zum Anlass, umzukehren und den anderen Weg zu wählen, der sich dann als richtig herausstellt.
Insgesamt sehe ich von Glambeck bis Poratz sechs Wildschweine (1+4+1), bin aber dann jeweils zu vorsichtig, die Kamera hervorzukaspern – wer weiß schon, ob die das mögen.
Kurz nach der letzten Wildbegegnung treffe ich ein Frauenpaar auf Fahrrädern. Ich frage, ob sie vielleicht Autan dabeihaben, denn die Mücken setzen mir doch ziemlich zu. Man bietet mir Japanisches Minzöl an, wovon ich Gebrauch mache. Es nützt allerdings nicht viel. Wir tauschen uns kurz über die Wildschweine aus. Dann geht es weiter. Wenig später gibt es endlich auch mal wieder Wegweiser und man kann geradlinig nach Poratz (Kilometer 19,5) durchlaufen.

Feuchtgebiet
Als ich in Poratz ankomme – sehr verträumtes kleines Dorf ohne Autoverkehr und mit vielen schönen Häusern, ich kenne es seit vielen Jahren –, ist es halb acht. Meine Füße sind sehr durchgeknetet.

Mein Plan ist jetzt, mich (wegen des fehlenden Mückensprays) für die Nacht möglichst in Neu-Temmen im Gesindehaus einzumieten, denn ich weiß von früherer Recherche her, dass dort sehr billige Zimmer vermietet werden. Da ich Handy-Empfang habe, rufe ich »zuhause« an und lasse mir die Telefonnummer heraussuchen.
Und tatsächlich habe ich Erfolg. Dass ich als Wanderer unterwegs bin, ist wohl das Zauberwort. Denn eigentlich wird nur noch an Eselswanderer vermietet, das im vorigen Sommer noch bestehende Café ist inzwischen auch geschlossen, aber der Hausherr ist selbst früher als Wanderer unterwegs gewesen und hat ein Einsehen. So laufe ich mit schmerzenden Fußsohlen die letzten drei Kilometer dieses Tages nach Neu-Temmen.

Zwischen Poratz und Neu-Temmen
Dort werde ich von Hund und Hausherr schon auf der Straße als »der Wandersmann« begrüßt. Ich bekomme ein Zimmer für 22 Euro inklusive Endreinigung, und der Tag endet draußen auf dem kleinen Hof hinter dem Haus mit einem Bier und einem fast privaten Gespräch über Tourismuskonzepte, Lebenskonzepte, Wanderkonzepte und alles andere, was unter den gegebenen Umständen damit zu tun hat.
In der Küche mache ich mir zu guter Letzt noch einen Kaffee ohne Milch, der mich dann leider des Nachts noch stundenlang wach hält.
Oder sind es doch die Füße? An der Kante der rechten Ferse hat sich möglicherweise eine Blase unter der Hornhaut gebildet; von außen ist nichts zu sehen, aber es schmerzt, wenn man draufdrückt, und folglich schmerzt es auch beim Gehen. Schlimmer ist aber das intensive Brennen der Fußsohlen, das während der Nacht anhält. Irgendwann nach Mitternacht schlafe ich für einige Stunden ein.
Erster Tag
an dem der livländische Graf* sich beim Ortsvorsteher zum Kaffee einlädt und mit dessen Sohn die Frage des Wildcampens klärt, im Walde von zwei Freifrauen einen Schluck Pfefferminzöl dargereicht bekommt und sich zum Abend in ein Gesindehaus flüchtet.
Zweiter Tag
an dem derselbe Graf fürs Duschen getadelt wird, unter den Augen der Polizei eine Currywurst verzehrt, abends ziemlich erschossen aussieht und ein Gespräch über den Tod von James Dean belauscht.
Dritter Tag
an dem nicht mehr viel geschieht, außer dass sich eine Ente menschlich tief enttäuscht vom Grafen abwendet und sich der Regenschutz wieder einmal als Trainingsgewicht erweist.
*Über den Fernwanderer Johann Gottfried Seume heißt es irgendwo in den unendlichen Weiten des Netzes: »Seit 1790 Erzieher des livländischen Grafen Gustav Andreas Otto von Igelström.« Thanks to Pfad-Finder.
Erster Tag (Pfingstmontag, 20. Mai 2013)
Das Pfingstwochenende neigt sich dem Ende zu. Das scheint mir ein guter Zeitpunkt, um zu einer Forschungsreise in die Uckermark aufzubrechen. Ich packe also mein NATO-Ränzlein, leider ohne einen Blick in meine Packliste zu werfen, und schnüre meine noch keineswegs eingelaufenen transatlantischen Heldenstiefel, von denen ein frecher Freund (und frivoler Fortschrittsfeind) behauptet, sie sähen aus, als hätten sie einem Yps-Heft beigelegen oder seien aus einem Kaugummi-Automaten gezogen worden. Indessen: Belleville 390 Desert USGI military army combat boots und so weiter – das klingt doch wie The few, the proud, the Marines; kann man ja gar nicht meckern.
Und irgendwann müssen sie doch eingelaufen werden. Die Risiken sind mir bewusst, von den Unbilden später mehr. Zuhause scheint es zunächst, als könnte sich die Schnürung im Bereich des Mittelfußes als Problem erweisen, aber dieser Schmerz verschwindet beim Laufen bald. Das Problem ist das flache Fußbett und die relativ weiche, bodensensible Vibram-Sohle. Das ist ungewohnt und zeitigt Folgen.
Ich fahre um die Mittagszeit mit dem Zug nach Angermünde, um von dort nach Westen zu laufen, im Kopf eine grobe Routenplanung mit Altkünkendorf und Poratz als ersten Fixpunkten. Wie weit ich jeweils komme, ist ja egal, wenn ich in der freien Landschaft schlafe. Denke ich mir jedenfalls.
Beim Hinauslaufen aus der Stadt bemerke ich, dass ich unsichtbar bin. Das kann in Brandenburg immer mal passieren und vergeht später wieder. Man bemerkt es daran, dass man nicht zurückgegrüßt wird, wenn man jemanden grüßt. Bis zum Rastplatz am Ortsrand geschieht das mehrmals; von Gegenbeispielen ist nichts zu berichten. Man würde das vielleicht überall auf der Welt als Affront empfinden, aber hier in Brandenburg sieht man den Menschen an, dass sie es gar nicht böse meinen. Sie nehmen mich eben nicht wahr, auch wenn ich in fünfzig Zentimeter Abstand an ihnen vorbeilaufe und Guten Tag sage. Be prepared, wenn Du in Brandenburg wanderst.
Am Ortsrand hört das mit den Menschen auf und die ersten stechlustigen Flugsaurier stürzen sich auf den Wanderer. Und wie falsch war es, beim Packen keinen Blick in die Liste zu werfen! Das Mückenspray ist daheimgeblieben. Vielleicht, so denke ich, wird es ja ausreichen, sich für die Nacht einen möglichst windigen Platz zu suchen.
Also weiter jetzt. Der vermeintliche Wanderweg nach Altkünkendorf ist ein Pfad entlang einer allerdings wenig befahrenen Straße. Man sieht das auf dem folgenden Bild.
Die Topographische Freizeitkarte 1:50 000 des Landesvermessungsamtes ist, wie sich hier bereits andeutet und im weiteren Verlauf bestätigt, zum Wandern nicht besonders gut geeignet. Man kann nämlich den in verschiedenen Farben fett markierten Qualitätswegen zumindest auf den ersten Blick nicht ansehen, ob es sich um Fahrradrouten oder Wanderwege handelt; dazu ist schon etwas mehr Kartenhermeneutik erforderlich. Aber selbst die nichttouristische Basiskennzeichnung lässt nicht immer erkennen, ob es sich um einen befahrbaren Forstweg oder um eine Asphaltstraße handelt. So gerät man dann immer mal auf kilometerlange Asphaltstrecken.
Zudem häufen sich an manchen Stellen auf der Karte die plakativen, sozusagen Erlebnisdichte vortäuschenden touristischen Markierungen so, dass man den wahren Wegeverlauf nur noch vage erahnen kann. Man spürt die Absicht. Die Tourismuskonzepte entwerfen die Uckermark als Natur- und Kulturerlebnislandschaft. Wenn man vorn Erlebnis zufüttert, wird hinten irgendwo Wertschöpfung herauskommen.
Bei Kilometer 6,3 biege ich von der Straße in einen schönen Feldweg ab, der gewusst haben muss, dass ich diesmal mit Wüstenstiefeln komme.
Vom Waldrand geht der Blick weit über die frühsommerlichen Felder.
Später verliert sich der eingezeichnete Weg, und während sich rechts für kurze Zeit der Wolletzsee zeigt, muss ich schließlich mit dem Kompass navigieren, denn das Zwischenziel Altkünkendorf bleibt hinter den Hügeln einstweilen unsichtbar. Ich laufe parallel zu einem Gehölzstreifen in einer Traktorenspur über das Getreidefeld, komme aber letztlich an der richtigen Stelle am Rand des Dorfes heraus.
Altkünkendorf (Kilometer 9,0) hat seinen Erlebniswert gleichsam von der UNESCO verliehen bekommen; der naturnahe Buchenwald ist Weltnaturerbe. Ganz leicht zu vermarkten ist das freilich nicht, denn man muss eben immer noch hinlaufen, und damit man dann nicht nur Bäume sieht, werden geführte Wanderungen angeboten. Dagegen ist selbstverständlich nichts zu sagen, es soll auch nicht so klingen. Einerseits war das Wissen um das Weltnaturerbe für mich ein vager Anlass, hier vorbeizulaufen, andererseits plane ich das organisierte Erlebnis normalerweise nicht ein, so dass ich in diesem Fall den fraglichen Wald mangels geeigneten Zufalls nicht zu Gesicht bekomme.
Stattdessen geschieht etwas anderes. Während ich nämlich vor der Kirche sitze, werde ich von einem (wie soll ich sagen?) alerten älteren Herrn angesprochen, und während wir ein paar Worte über meinen Wanderplan wechseln, taucht noch ein Berliner Tagestouristenpaar auf, das nach einem ja immerhin denkbaren, aber letztlich doch nicht vorhandenen Café fragt.
Der alerte Herr ist der Ortsvorsteher, und der Auftritt endet damit, dass wir uns alle drei bei ihm zuhause auf der Terrasse zu Kaffee und Rhabarberkuchen einfinden. Man muss sich dabei einen sehr gepflegten weitläufigen Eigenheimgarten mit weitem Landschaftsausblick vorstellen. Das Gespräch geht über das Weltnaturerbe, über Tourismuskonzepte, über den jährlichen Schorfheide-Marathon, über die Entwicklung des Dorfes – und nebenbei auch über das Wildcampen. Unser Gastgeber ist nämlich der Meinung, dass man ja in Deutschland im Wald zelten dürfe. Sein Sohn, der Rechtsanwalt, von dem diese Überzeugung ursprünglich stammt, konsultiert auf allfällige Einwände hin noch einmal seine handliche Taschenausgabe des Brandenburgischen Waldgesetzes, um abschließend festzustellen, dass die dort verzeichnete Gestattungsregelung für Wanderer freilich nicht praktikabel sei: Der Waldbesitzer darf eine Erlaubnis erteilen, die er der unteren Forstbehörde anzuzeigen hat.
Beim Wandern in diesen Tagen wird aber auch schnell klar, wieso es in dieser Frage keine selbstverständliche allgemeine Rechtskenntnis gibt: Der Konfliktfall ist zu selten. Wanderer mit Übernachtungsausrüstung trifft man nirgends, und auch die Radfahrer, die ich unterwegs gelegentlich sehe, sind ausnahmslos ohne Reisegepäck unterwegs.
Es ist siebzehn Uhr, als wir uns verabschieden und ich mich in Richtung Poratz auf den Weg mache.
Der Weg führt über die Glambecker Mühle nach Glambeck (Kilometer 13,6) und kreuzt dabei die A 11 (Berlin – Stettin).
Am Heiligen See hinter Altkünkendorf
Autobahn A 11
Noch jemand ist zu Fuß unterwegs.

Fachwerkkirche in Glambeck
Innenansicht
Rastplatz
Bilderrätsel? Zur Not könnte man darin übernachten.

Hinter Glambeck laufe ich noch eine Weile auf einer Asphaltstraße in Autobahnnähe nach Norden, bevor ich im Wald verschwinde. Wieder einmal zeigt sich, dass bei diesem Kartenmaßstab in Waldgebieten ohne markante Geländepunkte die Wegezeichnung nicht genau genug ist, um ohne Kompass die gewünschte Route zu finden. Einmal biege ich falsch ab und nehme erst die Begegnung mit einer kleinen Wildschweinrotte zum Anlass, umzukehren und den anderen Weg zu wählen, der sich dann als richtig herausstellt.
Insgesamt sehe ich von Glambeck bis Poratz sechs Wildschweine (1+4+1), bin aber dann jeweils zu vorsichtig, die Kamera hervorzukaspern – wer weiß schon, ob die das mögen.
Kurz nach der letzten Wildbegegnung treffe ich ein Frauenpaar auf Fahrrädern. Ich frage, ob sie vielleicht Autan dabeihaben, denn die Mücken setzen mir doch ziemlich zu. Man bietet mir Japanisches Minzöl an, wovon ich Gebrauch mache. Es nützt allerdings nicht viel. Wir tauschen uns kurz über die Wildschweine aus. Dann geht es weiter. Wenig später gibt es endlich auch mal wieder Wegweiser und man kann geradlinig nach Poratz (Kilometer 19,5) durchlaufen.
Feuchtgebiet
Als ich in Poratz ankomme – sehr verträumtes kleines Dorf ohne Autoverkehr und mit vielen schönen Häusern, ich kenne es seit vielen Jahren –, ist es halb acht. Meine Füße sind sehr durchgeknetet.
Mein Plan ist jetzt, mich (wegen des fehlenden Mückensprays) für die Nacht möglichst in Neu-Temmen im Gesindehaus einzumieten, denn ich weiß von früherer Recherche her, dass dort sehr billige Zimmer vermietet werden. Da ich Handy-Empfang habe, rufe ich »zuhause« an und lasse mir die Telefonnummer heraussuchen.
Und tatsächlich habe ich Erfolg. Dass ich als Wanderer unterwegs bin, ist wohl das Zauberwort. Denn eigentlich wird nur noch an Eselswanderer vermietet, das im vorigen Sommer noch bestehende Café ist inzwischen auch geschlossen, aber der Hausherr ist selbst früher als Wanderer unterwegs gewesen und hat ein Einsehen. So laufe ich mit schmerzenden Fußsohlen die letzten drei Kilometer dieses Tages nach Neu-Temmen.
Zwischen Poratz und Neu-Temmen
Dort werde ich von Hund und Hausherr schon auf der Straße als »der Wandersmann« begrüßt. Ich bekomme ein Zimmer für 22 Euro inklusive Endreinigung, und der Tag endet draußen auf dem kleinen Hof hinter dem Haus mit einem Bier und einem fast privaten Gespräch über Tourismuskonzepte, Lebenskonzepte, Wanderkonzepte und alles andere, was unter den gegebenen Umständen damit zu tun hat.
In der Küche mache ich mir zu guter Letzt noch einen Kaffee ohne Milch, der mich dann leider des Nachts noch stundenlang wach hält.
Oder sind es doch die Füße? An der Kante der rechten Ferse hat sich möglicherweise eine Blase unter der Hornhaut gebildet; von außen ist nichts zu sehen, aber es schmerzt, wenn man draufdrückt, und folglich schmerzt es auch beim Gehen. Schlimmer ist aber das intensive Brennen der Fußsohlen, das während der Nacht anhält. Irgendwann nach Mitternacht schlafe ich für einige Stunden ein.
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