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Der Grande Randonnée 20
Reisebericht als PDF?
Weitere Bilder und Kartenmaterial?
Hallo zusammen,
seit einiger Zeit habe ich einen ausführlichen Reisebericht zu der für mich bisher schönsten Trekkingtour online gestellt. Ich gebe zu, der Bericht ist umfangreich
...vielleicht genau das Richtige für alle, die diese Tour noch gehen wollen oder sich gern an ihre eigenen Erlebnisse erinnert fühlen.
Viel Spaß beim Lesen!
Eckdaten
Gebiet: Korsika (Frankreich)
Zeitraum: 31. August bis 18. September 2013
Route: Calenzana • Foret de Bonifatu • Refuge de Carozzu • Haut-Asco • Refuge Tighiettu • Bergerie de Ballone • Refuge Ciuttulu di i Mori • Castellu di Verghio • Refuge de Manganu • Refuge de Petra Piana • Refuge de l'Onda • Vizzavona • Refuge de Capannelle • Col de Verde • Refuge de Prati • Refuge d'Usciolu • Bergerie de Croce • Refuge d'Asinao • Col de Bavella • Refuge de Paliri • Conca
Anspruch: Anstrengender Hochgebirgsfernwanderweg durch schwieriges Gelände bei typischem Mittelmeerklima und atemberaubender Natur.
Höhepunkte: 180 Km und 12500 Hm • Windgeschwindigkeiten bis 12 Bft • Temperaturen von 0° bis 30°C • Cirque de la Solitude • Mittelmeer und Hochgebirge • Korsische Kekse und Maronenbier
Vorbereitung und Anreise
Samstag, 31. August und die Monate davor
Mein Segeltörn im Jahr zuvor entlang der Ostküste Korsikas hat mich auf den Geschmack gebracht, hat in mir geradezu Begeisterung für diese Insel ausgelöst. Keine langweilige Flachlandinsel aus Sand, Strandurlaubern und nichts weiter, sondern wilde, scharfkantige Steilklippen, Hochgebirge, kräftige Fallwinde und das weite Meer als Kontrast dazu. Eine kurze Recherche nach Wanderungen auf Korsika brachte es schnell ans Licht: Grande Randonnée 20, kurz GR-20, das einzig Wahre, ein Muss! Damit einher kamen Superlative wie "härtester Wanderweg Europas" oder "schönster Grande Randonnée" und immer wieder der Begriff "Cirque de la Solitude - Kessel der Einsamkeit". Das alles machte uns wahnsinnig neugierig, und so dauerte es nicht lange bis die Entscheidung für unsere Trekkingtour 2013 gefallen war. Den Großteil unserer Ausrüstung hatten wir nach zwei vorangegangenen Trekkingtouren in Norwegen und Schottland inzwischen beisammen. Nur hier und da optimierten wir einzelne Teile auf Gewicht, denn die von uns anvisierten 14 Tagesetappen waren ein langer Zeitraum, jedenfalls lang genug um dankbar auch für wenige Gramm Erleichterung auf dem Rücken zu sein. Als wir einen ersten Blick in unsere beiden Trekkingführer von Rother und Conrad Stein warfen, fiel uns die strikte Trennung des GR-20 in Nord- und Südteil auf. Der Nordteil enthält die spannenderen Kletterpassagen und gilt allgemein als anstrengender, der Südteil hingegen ist der ruhigere und sanftmütigere Teil des GR-20. Wir entschieden uns für den gesamten Weg und mussten später feststellen, dass der Unterschied zwischen beiden Teilen gar nicht so groß ist und das letzte Wort noch immer das Wetter zu sprechen hat.
Die zweite Grundsatzentscheidung bei der Planung ist die Richtung, in die man laufen möchte: Von Nord nach Süd oder umgekehrt. Die Sonne im Gesicht oder im Rücken. Die größten Anstrengungen zuerst oder zum Schluss. Und dann gibt es ja noch den Cirque de la Solitude, dem in manchen Reiseberichten ganze Seiten gewidmet werden und von dem wir bis jetzt keine konkrete Vorstellung hatten. Da wir Anfang September starten wollten, hielten wir es für ratsam, die kniffligen Passagen so schnell wie möglich hinter uns zu bringen um einem vielleicht früheren Kälteeinbruch besser im Süden des GR-20 zu begegnen. Wir planten und deckten uns mit topografischen Karten ein, planten weiter und eigentlich waren wir noch mitten in der Planung oder in der mentalen Vorbereitung, als es auf einmal soweit war. Der Rucksack war gepackt und das Gewicht meines Deuter lag wie schon in den Jahren zuvor über meinem Wunschgewicht bei letztendlich 19 Kilogramm ohne Wasser. Wir rechneten nicht damit, an jeder Hütte Verpflegung kaufen zu können und schleppten daher Nahrung für ca. eine Woche mit: Tütensuppen, Nudeln, 50 Energieriegel, Nüsse und zum ersten Mal verschiedene Sorten Pemmikan, einer nahrhaften Mischung aus Dörrfleisch und Fett. Beim letzten Gespräch am Abend vor dem Abflug, an dem wir unsere Packlisten ein letztes Mal kontrollierten, spürte ich eine ungewisse Aufregung in uns. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde: 12500 Höhenmeter und 180 Kilometer über zwei Wochen verteilt durch ein Hochgebirge wandern, das hatte noch keiner von uns gewagt. Konnte man das eigentlich noch Wandern nennen? Ich hoffte es!
Korsika gehört seit 1769 zu Frankreich, daher gilt Französisch als Amtssprache. Daneben existiert allerdings eine eigene italoromanische Sprache, die sich in den Jahrhunderten zuvor entwickelt hat und eine Mischung aus Italienisch und Französisch darstellt. Anbei ein ganz kleines Wörterbuch mit den wichtigsten Begriffen aus der korsischen Bergwelt:

Bastia: Blick auf den alten Hafen Le Vieux Port der wichtigsten Handelsstadt Korsikas.
Sehr früh musste der Wecker nicht klingeln, denn unser Flug ging erst am Nachmittag und mein Weg von Freiburg nach Stuttgart war deutlich kürzer als Marcels Anreise von Dresden. Vermutlich klingelte der Wecker in den folgenden zwei Wochen nie später als an diesem Tag, doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich zog mich in Ruhe an, nahm noch ein letztes Mal ein ordentliches Frühstück zu mir, hievte meinen Rucksack auf, zog die sauberen und am Vorabend imprägnierten Trekkingstiefel an und machte mich auf den Weg nach Stuttgart. Am Hauptbahnhof stieß ich auf Marcel, meinen Begleiter für die nächsten 18 Tage und Kumpel aus Kindheitstagen. Erschrocken stellten wir fest, dass wir doch tatsächlich die gleichen Wandershirts trugen, ein Albtraum für Individualisten, aber schon im nächsten Moment waren wir in Gedanken auf Korsika, dem Hochgebirge im Meer. Interessiert stellten wir im Warteraum fest, dass ein großer Teil der Passagiere ebenfalls in Wanderkleidung unterwegs war. Mit ein paar von ihnen kamen wir ins Gespräch und der GR-20, so stellte sich heraus, war bei keinem unbekannt, sondern bei allen Gesprächsthema Nummer Eins. Der Flug mit Germanwings verlief ohne Probleme, keine verloren gegangenen Rucksäcke wie in Norwegen oder Check-In Hürdenläufe durch das Flughafenterminal wie in Schottland. Der Anflug auf Bastia war beeindruckend, denn der Pilot steuerte zunächst an Bastia vorbei und flog eine Spitzkehre knapp über den ersten Gipfeln des Gebirges. Irgendwo dort unten sollte unsere Tour beginnen, auf irgendeinem dieser Gipfel würden wir stehen. Das Wetter war perfekt und der Pilot meldete über 30 Grad Celsius und wolkenfreien Himmel in Bastia.

Die Hafenpromenade von Bastia mit einer vor Anker liegenden Fähre.
Nach dem üblichen Prozedere und der Entgegennahme unserer Rucksäcke standen wir schließlich vor dem Flughafen. Vorsichtshalber hatten wir für die erste und letzte Nacht eine günstige Unterkunft in Bastia gebucht um genügend Zeitpuffer für den Abflug zu haben und den ersten Bus oder Zug am frühen Morgen nach Calenzana, dem Startpunkt des GR-20, zu bekommen. Leider ist der Ruf der öffentlichen Verkehrsmittel auf Korsika verheerend was Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit betrifft und wir waren drauf und dran uns mit anderen Wanderern zusammenzuschließen und ein Taxi bis Calenzana zu nehmen. Der Preis von 180 Euro war den beiden am Flughafen getroffenen Deutschen allerdings zu hoch und nach Absprung dieser beiden entschieden auch wir uns für die ursprünglich geplante Übernachtung in Bastia, auch wenn wir dadurch fast einen ganzen Tag verlieren würden. Ein Bus, der seine besten Tage schon hinter sich hatte, brachte uns anschließend ins Stadtzentrum von Bastia. Während die Klimaanlage auf Hochtouren lief überlegten wir zusammen mit dem Pärchen aus Karlsruhe wie wir am nächsten Morgen am schnellsten nach Calenzana kommen konnten. Es gab zwei Möglichkeiten: Bahn oder Bus. Schiene oder Straße. Was würde zuverlässiger sein? Wir entschieden uns für den Bus und die anderen beiden für die Bahn und wir bereuten unsere Entscheidung nicht! Den Rest des Abends verbrachten wir mit einem Spaziergang entlang der Uferpromenade und aßen ein letztes Mal etwas Vernünftiges. Aber was? Ich vergaß zu erwähnen, dass wir fast kein Wort Französisch sprachen. Mein kleines Reisewörterbuch war schnell überfordert und musste sich gegen unsere ausgewachsene französische Speisekarte klar geschlagen geben. Wir bestellten einfach einen Cheeseburger mit Pommes und Salat! Anschließend verschwand Marcel Richtung Herberge, während ich noch ein wenig frische Meeresluft atmen ging, meinen Gedanken freien Lauf ließ und die ganzen Erinnerungen verarbeitete, die auf einmal wiederkamen. 17 Monate war es schon wieder her, als ich an dieser Küste entlang segelte und mir dachte, dass es hier doch sicher ein paar nette Wanderungen geben müsste. Eine Stunde später lag ich im Bett.
Trockenheit und Mittagshitze
Sonntag, 1. September | Calenzana - Foret de Bonifatu

Gefunden: Der Zugang des GR-20 mit Conca als Ziel am anderen Ende der Insel.
Pünktlich war er schon, unser kleiner gemütlicher Bus. Nur der exakte Haltepunkt war etwas schwierig zu finden. Alle Trinkflaschen waren gefüllt, der Rucksack mit seinen inzwischen 22 Kilogramm wurde im Kofferraum verstaut und wir nahmen in einer der vorderen Reihen Platz. Aus dem Radio schwang gut gelaunte französische Volksmusik und als der Bus endlich losschaukelte summte unser Busfahrer freudig mit. Genau so stellte ich mir das Leben hier vor. Gemütlich, gut gelaunt und ohne Stress! Zunächst fuhren wir Richtung Süden um auf die Passstraße zu gelangen, die uns durch den nördlichen Zipfel des Gebirges führte. Nach etwa drei Stunden Fahrt kam das Meer wieder in Sicht, jetzt würde es nicht mehr weit sein. Wir verständigten uns mit dem Busfahrer, nutzten Hände und Füße, damit er uns schon vor Calvi, der größten Hafenstadt an der Nordküste Korsikas und Endstation unseres Busses, auf der Straße absetzte. Von der Küstenstraße bis nach Calenzana waren es etwa 10 Kilometer landeinwärts in brütender Hitze zu laufen. Da uns auf dieser Nebenstraße hin und wieder tatsächlich ein Auto überholte, versuchte ich mein Glück und hielt einen Daumen raus. Bereits das dritte Auto hielt an und die Fahrerin, eine zugewanderte Italienerin, winkte uns zu sich. Sie erzählte uns zwei drei Sätze über ihr Leben hier auf Korsika und schon waren wir in Calenzana, einem etwas ausgetrockneten Dorf am Fuß eines großen Berghangs.

Sonnengebräuntes Erlengestrüpp und erste Felsen ließen nicht lange auf sich warten.
Trotz der unerwarteten Taxifahrt war es jetzt schon 13 Uhr und wir hatten die Wahl: Einen Zeltplatz suchen und am nächsten Morgen früh los oder sofort starten - trotz fortgeschrittener Stunde - und das Risiko eingehen von der Dunkelheit überrascht zu werden. Glücklicherweise gab es noch eine dritte Möglichkeit: Sofort und wie geplant los laufen und auf halbem Weg den Abzweig nach Foret de Bonifatu nehmen, einem alternativen Einstiegspunkt auf den GR-20. Wir wollten endlich hinauf auf die Berge, der Hitze auf Meeresspiegelniveau entkommen und keinen weiteren Tag verlieren - wer wusste schon wann wir den noch brauchen würden. Die Entscheidung war schnell gefallen und der Zugang zum GR-20 ebenso schnell gefunden. Ein paar Spritzer Sonnencreme auf die Haut, Rucksäcke sattelfest gemacht und kaum hatten wir das letzte Haus von Calenzana hinter uns gelassen, ging es ohne Ausnahme steil bergauf. Bereits nach einer Stunde erblickten wir wieder das Meer und sahen auf den vorerst letzten Ort hinab. Der Weg schlängelte sich durch eine staubtrockene Einöde weiter hinauf und schon war der erste Liter Wasser verbraucht. Langsam hielten wir Ausschau nach der Alternativroute Richtung Foret de Bonifatu, denn laut unserem Kartenmaterial müsste es jederzeit soweit sein. Ein nicht mehr lesbarer Wegweiser überzeugte uns und wir schlugen eine neue Richtung ein, doch nach diesem Wegweiser kam nichts mehr.

Zum Ende eines jeden Sommers: Das ausgetrocknete Flussbett des Figarella.
Es ging verdächtig steil bergab und die Kurven, die der neue Pfad nahm, stimmten uns nachdenklich. Erschrocken nahmen wir plötzlich zur Kenntnis, dass wir am Horizont vor uns ein Dorf sahen, dass nur Calenzana heißen konnte. Was für ein Ärger! Bis wir zurück an der Gabelung mit dem nicht mehr lesbaren Wegweiser waren, hatten wir eine gute Stunde vergeudet. Als wir schließlich den richtigen Weg fanden ging es quer über mehrere Hügel, an Dornengestrüpp vorbei, durch neue Senken und über weitere Hügel hinüber. Das Wasser neigte sich weiter dem Ende entgegen bis wir genau zum richtigen Zeitpunkt eine erste Quelle fanden. Das aus einem Wiesenhang hinausragende Eisenrohr versprühte kaltes Wasser, perfekt zum Erfrischen, und so legten wir eine kurze Pause ein, aßen zwei Riegel und nahmen anschließend den Rest des Weges in Angriff. In den Stunden bis zu unserem Etappenziel kreuzten wir den Figarella, einen Fluss, an dem wir Wasser auffüllen wollten, der aber fast vollständig ausgetrocknet war. Wir wuselten durch enges Gestrüpp einen Trampelpfad hinauf und fluchten über die üblichen Unannehmlichkeiten eines ersten Wandertages, die ein schwerer Rucksack oder feste Bergschuhe mit sich bringen. Es war bereits zu fortgeschrittener Abenddämmerung, als wir im Foret de Bonifatu unsere Zelte auf steinreichem Untergrund aufbauten und uns abends eine gekühlte Orangina und ein Weißbrot gönnten. Die seit längerem erste Nacht im Zelt war ungewohnt, die Lage seitlich abfallend und daraus schlussfolgernd die Erholung schlecht.
Der Norden vergibt nicht
Montag, 2. September | Foret de Bonifatu - Haut-Asco

Refuge de Carozzu: Das erste typische Refuge auf unserem Weg.
Erbarmungslos klingelte der Wecker 6 Uhr 30! Nachdem wir unsere Ausrüstung verpackt und die Wasserflaschen aufgefüllt hatten sowie uns zum Frühstück das restliche Weißbrot vom Vorabend zusammen mit zwei Energieriegeln schmecken ließen, war es schon 7 Uhr 45. Damit waren wir, abgesehen von einer vierköpfigen Familie mit Kindern, die Letzten, die sich auf den Weg zum Refuge de Carozzu machten. An den neuen Rhythmus hatten wir uns also noch nicht gewöhnt, aber das sollte noch kommen. Der Weg führte uns durch Laubwälder über die nördlichen Teile des Mare e Monti, einem weniger bekannten Fernwanderweg, bis er schließlich steil bergauf zum Refuge de Carozzu und zurück auf den eigentlichen GR-20 führte. Bis jetzt waren wir uns nicht sicher gewesen, ob wir die folgende Etappe bis Haut-Asco gleich mit angehen sollten. Der Wetterbericht der Hüttenwirtin im Refuge sagte Regen und Starkwind vorher und unser Trekkingführer mahnte die erste schwere Etappe des GR-20 an, doch es war gerade erst Mittag und wir fühlten uns nach einer guten Pause wieder ausreichend gestärkt. Eine kurze Erfrischung an der nicht weit entfernten Wasserquelle und es ging weiter über Wurzeln und Baumstümpfe.

Die berühmte Hängebrücke markiert den Einstieg zu den ersten alpinen Abschnitten.
Nach nur wenigen Minuten erreichten wir erstmals die Baumgrenze und aus einem festgetretenen Waldpfad wurde ein kleiner Klettersteig über schräge Steinplatten und entlang mit Eisenketten bestückter Felsabschnitte. Irgendwann, als uns der Weg immer weiter und höher führte, legten wir eine weitere Pause ein und genossen die herrliche Aussicht auf die schroffen Felsformationen und engen Täler. Von der Regenfront war glücklicherweise noch nichts zu sehen als uns zwei Deutsche entgegen kamen, den GR-20 also von Süd nach Nord liefen und ihr Ziel Calenzana so gut wie erreicht hatten. Respekt dachten wir, die haben es bald geschafft! Eine kurze Frage nach den Bedingungen im Cirque de la Solitude, ab sofort nur noch Cirque genannt, wurde mit einem Grinsen beantwortet. Was das wohl bedeuten sollte? Langsam aber stetig stießen wir weiter in die alpinen Abschnitte vor, während der Himmel sich mehr und mehr verfinsterte. Trocken würden wir Haut-Asco heute bestimmt nicht erreichen! Das war zu diesem Zeitpunkt aber egal, denn die Hitze war trotz der Höhe und der sich schließenden Wolkendecke weiterhin präsent und ein kurzer Schauer käme uns gelegen. Wir überquerten soeben die Bocca di a Muvrella (2025 m), ungefähr auf dem höchsten Punkt dieser Etappe, gerade während wir zu einer größeren Gruppe aus Osteuropa aufschlossen, die sich vor einer Engstelle mit Klettereinlage sammelten, als die ersten Regentropfen fielen. Und hier wurde uns das erste Mal bewusst, dass Korsika eben nicht Norwegen ist und der GR-20 tatsächlich sehr bekannt sein muss.

Wer im Norden beginnt findet sich sehr schnell inmitten von Gipfeln wieder.
Auf engen Serpentinen überholten wir einen nach dem anderen, bis wir den Großteil der Gruppe hinter uns hatten während der Regen stärker wurde. Wie so oft entscheidet man sich erst dann für den Regenschutz, wenn es eigentlich schon zu spät ist. So auch hier! Als wir die Regenjacken überzogen und die Rucksäcke abdichteten, goss es bereits wie aus Eimern. Der steiler werdende Pfad hinab ins Tal verwandelte sich innerhalb von Sekunden von einem Rinnsal in einen fließenden Strom, welcher sich, je weiter man ins Tal fortschritt, immer öfter verzweigte. Erfreut sahen wir, wie einer der fortgeschrittenen Bergwanderer einzelnen Personen aus der Gruppe unter die Arme griff. Wir halfen derweil einem Einzelgänger beim Überziehen seines Ponchos, was in diesem Abschnitt allein etwas mühselig war. Noch immer konnten wir unser Etappenziel im weiten Tal nicht ausfindig machen. Mit dem Hosenboden rutschten wir an glatten Felsabsätzen entlang, während das strömende Regenwasser von oben und unten auf uns einbrach. Trotz Zelt im Rucksack hofften wir jetzt auf einen freien Platz im Gîte. Kurz nach einer weiteren Kletterpassage auf einer glitschigen Gesteinsplatte passierte es: Ich blieb mit meinem rechten Schuh in einem engen Spalt hängen, konnte mich mit dem linken Fuß abfangen und verknackste mir diesen dabei. Auch das noch! Nach einer zehnminütigen Pause liefen bzw. humpelten wir weiter, alles natürlich ein wenig langsamer.

Kurz vor Regeneinbruch auf 2000 Metern: Die Aussicht von der Bocca di a Muvrella.
Erst gegen 16 Uhr, als der Regen langsam nachließ, machten wir unser Ziel aus: Haut-Asco! Versteckt hinter Bäumen und vor einem tief abfallenden Tal. Der steinige Abstiegspfad wandelte sich langsam zu einem Wurzelpfad, durch dichten Kiefernwald führend und immer steiler fallend, bis wir von einem Moment auf den anderen auf einem breiten Forstweg landeten und vor uns ein brüchiges Steinhaus und dahinter ein futuristisch anmutendes Holzgebäude fanden. Schnell ließ ich meinen Rucksack bei Marcel und verschwand für etwa zehn Minuten im Steinhaus. Alles voll! Die Plätze im Gîte waren bei schlechtem Wetter begehrt und den letzten Schlafplatz hatte derjenige bekommen, dem wir mit seinem Poncho geholfen hatten. Wir wussten nicht, was sich in dem großen Holzgebäude befand, daher liefen wir dort als nächstes hin und sahen bald, dass es sich um ein Hotel mit Restaurant handelte. Vor wenigen Jahren entstand hier ein großes Skigebiet, mitten in den korsischen Bergen und irgendwie deplatziert. Ein Zimmer war noch frei! Wir überlegten nicht lange und nahmen es ohne zu zögern. Ein Hotel entspricht zwar nicht unseren Vorstellungen eines Abenteuers im Hochgebirge, aber wir waren klatschnass und wollten dem Kessel der Einsamkeit am nächsten Morgen ohne größere Handicaps begegnen. Die schwierigste Etappe des GR-20 stand uns bevor. Den Rest des Tages trockneten wir unsere Ausrüstung mit einem kleinen Fön und entschieden uns während des Abendbrots den ersten Ruhetag bereits morgen einzulegen. Den Cirque wollte ich nicht mit angeknackstem Fuß durchklettern!

Das Gîte in Haut-Asco: Hier legten wir den ersten und letzten Ruhetag ein.
Es war der erste und letzte Ruhetag auf unserer Tour. Kurz nach dem Aufstehen packten wir unseren Kram zusammen, nahmen ein Frühstück aus Haferriegeln zu uns und gingen hinüber ins Steinhaus. Für die zweite Nacht in Haut-Asco wollten wir die ersten im Gîte sein und uns eine Schlafstelle sichern. Die Hüttenwirtin verkaufte frisches Weißbrot und zusammen mit Kartoffelpulver und dem oft gelobten Pemmikan aus unserem Rucksack mischten wir eine ganz gut verträgliche und stark sättigende Pampe an. Gegen 13 Uhr kamen die ersten Wanderer an und fielen über die freien Zimmer im Gîte her. Ein einzelner Franzose, den wir später noch viele Male wiedersehen würden, stieß erstmals zu uns und wir teilten zusammen ein Zimmer. Den Rest des Tages erkundeten wir die Gegend um Haut-Asco, ein Plateau auf einem Hang mit einer schmalen Straße, die aus dem Asco-Tal empor kroch und hier endete. Auf der dem Abstieg vom Vortag gegenüberliegenden Seite hatte man den höchsten Berg Korsikas vor sich, den Monte Cinto (2706 m) mit seinen ausgeprägten Graten. Mein Blick folgte weiter dem Hang hinauf und traf auf die Punta Minuta (2556 m), hinter diesem Berg musste sich der Cirque befinden und die Aufregung nahm zu. Viele, die den GR-20 gelaufen sind, beschreiben den Cirque auf eine ungewohnt latente, fast mystische Art und Weise, wie ein Erlebnis, dass anders abgelaufen ist, als man es erwartet hat. Wir blieben bei den Fakten, und die sagen, dass der Cirque die Schlüsselstelle auf dem GR-20 ist. Wer hier nicht weiter kommt, kann alternativ nur die kräftezehrende Route über den Monte Cinto nehmen oder muss wieder umdrehen. Wir studierten noch eine Weile unser Kartenmaterial und malten uns verschiedene Szenarien aus, falls es am Cirque doch nicht so laufen sollte, wie geplant. Ansonsten ist an diesem Tag nicht viel mehr passiert, und da wir am nächsten Morgen die Ersten am Berg sein wollten, um den Andrang an den Kletterstellen und die Gefahr eines Steinschlags zu minimieren, verschwanden wir schon früh im Bett. Der Wecker war auf 5 Uhr 15 gestellt!
Der Kessel der Einsamkeit
Mittwoch, 4. September | Haut-Asco - Bergerie de Ballone
Bereits vor 5 Uhr wachten wir auf und warteten auf den Bon Jovi Song aus meinem Handy. Während der Franzose in unserem Zimmer noch schlummerte, machten wir leise unsere Rucksäcke abmarschbereit, legten die Stirnlampen und zwei Riegel zurecht und gingen nach unten in den Mannschaftsraum. Hier wurde an einer großen Tafel das Frühstück für eine größere Gruppe von Wanderern zurecht gemacht, einem sympathischen Haufen aus Engländern, wie wir später herausfinden sollten. Der Geruch von Rührei und frisch belegten Brötchen stieg uns in die Nase und weckte den Neid in uns als wir wieder auf unsere Haferriegel schauten. Der Großteil der Wanderer war jetzt munter und setzte sich an den langen Tisch, die meisten mit ernstem Blick - ihnen stand heute ebenfalls der Cirque bevor. Gegen 5 Uhr 50, gerade als die Hütte voll und es immer lauter wurde, zogen wir unsere Jacken über und rückten die Stirnlampen zurecht. Wir waren, abgesehen von zwei Alleingängern, tatsächlich die Ersten auf dem Weg zum Cirque - und es war dunkel und still.

Morgendämmerung 6 Uhr 50: 1 Stunde und 300 Höhenmeter lagen bereits hinter uns.
Hinter dem Steinhaus verlief der Weg einmal quer über das gesamte Plateau und verschwand kurz darauf in einem kleinen Birkenwäldchen. Es war ein überwältigendes Gefühl so früh am Morgen unterwegs zu sein. Die beiden Lichtkegel unserer Stirnlampen reichten gerade aus, um über das nächste Hindernis zu steigen. Im offenen Gelände wäre es schwierig gewesen die Zeichen des GR-20 zu orten, aber der Weg war eng und eindeutig. Nach 90 Minuten, das Birkenwäldchen lag schon lange hinter uns, kroch das Morgenrot die Felswände hinauf. Die schönsten Sonnenaufgänge sollte man angeblich hier beobachten können, aber dafür waren wir 30 Minuten zu spät losgelaufen. Als wir den ersten Blick auf das Meer erhaschen konnten, war die Dämmerung fast vorüber, das Farbenspiel war dennoch beeindruckend. Die Schatten der Nacht verschwanden und machten den Lichtspielen der Berge platz. Der Aufstieg wurde anstrengender, das Gelände steiler und verblockter und die ersten Klettereien ließen nicht lange auf sich warten. Doch bis jetzt blieb es angenehm kühl - sobald uns die Sonnenstrahlen näher kamen, führte uns der GR-20 hinter den nächsten Berg.

Nahe der Bocca Tumasginesca: Ein letzter Blick in das zurückliegende Tal...
Da wir das Höhenprofil dieser Etappe auswendig kannten, wussten wir, dass es nach einer kleinen Senke und einem See noch einmal kurz und knackig nach oben gehen und dort der Cirque auf uns warten würde. Der Schwindeltest, wie unser Trekkingführer den Cirque beschrieben hatte, stand uns kurz bevor. Als es immer weiter hinauf ging und wir uns langsam fragten, ob der Cirque de la Solitude eine Erfindung der Bergbauern sei um dem Ansturm der Wanderer Herr zu werden, standen wir gegen 8 Uhr 30 auch schon vor ihm. Völlig unscheinbar verliefen die Markierungen des GR-20 über einen Bergsattel, auf dem ein paar Leute Rast machten. Die aufkommende Frage, ob hier nicht bald der Cirque auftauchen müsste, wurde gleichzeitig mit dem Blick auf einen etwas unheimlich wirkenden Abgrund beantwortet. Wir befanden uns hier auf der Bocca Tumasginesca (2183 m) an der Westflanke der Punta Minuta und fragten uns, wie man da hinunter soll. Der Kessel der Einsamkeit lag vor uns, jetzt hieß es: Stöcke festbinden und alles verstauen, was hinderlich sein könnte, die Hände mussten frei sein. Hinter uns kamen bereits die nach uns gestarteten Wanderer in Sicht, wenn jetzt auch noch die Frühaufsteher aus der Gegenrichtung Süd-Nord kämen, dann würde es unangenehm eng werden. Wir wollten keine Zeit verlieren und machten uns auf - 250 Meter hinein in den Kessel und 300 Meter auf der anderen Seite wieder heraus.

...bevor wir für zwei Stunden im Kessel der Einsamkeit verschwanden.
Schon nach wenigen Metern kamen die ersten Eisenketten in Sicht. Schritt für Schritt kletterten wir nach unten, teilweise auf Rillen innerhalb von Steinschrägen und oft auf der Suche nach der nächsten festen Trittmöglichkeit, was mit 20 Kilogramm auf dem Rücken nicht immer eindeutig feststellbar war. Immer wieder hörten wir loses Gestein herunterrollen, welches von Leuten abseits der Markierungen losgetreten wurde, zum Glück kam es meist schnell zum Erliegen. Die mit Ketten gesicherten Abschnitte hörten bald auf und es ging nicht weniger steil ohne Sicherung weiter. An Griffen und Tritten hat es so gut wie nie gemangelt und der Fels im Cirque ist sehr scharfkantig und fest, doch bei Sturm und Regen sollte man diese Etappe abbrechen. Eine Gruppe von Franzosen lief erneut abseits der Wege und wagte sich an den Abgrund heran. Es passierte was passieren musste: Gesteine von der dreifachen Größe eines Kopfes kamen ins Rollen und verlangsamten sich dieses Mal nicht. Der Warnruf "Attention!" kam viel zu spät und nicht einmal von den Verursachern selbst, sondern von den Leuten, die bereits abstiegen und an den Ketten hingen. Die meisten versuchten in Deckung zu gehen und hatten Glück, dass die großen Steine am anderen Ende der Abstiegswand nach unten sprangen. So auch Marcel, an dem ein kopfgroßes Exemplar etwa drei Meter entfernt vorbeischoss.

Pausieren und Posieren: Auf der Bocca Minuta wurde der Cirque gefeiert.
Der Boden des Kessels kam langsam näher, gerade als die Kletterei anfing Spaß zu machen. Fließend ging die Felswand, an der wir seit einer guten Stunde klebten, über zu einem Geröllhaufen bis zum anderen Ende des Kessels. Jetzt kam der anstrengende Teil des Cirque! Nach einer kurzen Pause machten wir uns an den Aufstieg - keine Minute zu früh, wie wir an den vielen Leuten sahen, die hinter uns an der Wand hingen. Technisch gesehen ist es aufwärts meist einfacher, dennoch bot auch der Aufstieg zur Bocca Minuta (2218 m) die eine oder andere knifflige Stelle und mehrere kurze Kletterpassagen. Die letzten 100 Höhenmeter verlief der Pfad über extrem steile Geröllhänge, auf denen vor allem Rücksicht auf nachfolgende Wanderer genommen werden musste. Pünktlich 12 Uhr und heftig atmend standen wir auf dem höchsten Punkt dieser Etappe. Die Aussicht war atemberaubend! Hier oben trafen wir viele der Wanderer wieder, die uns bereits im Kessel der Einsamkeit begegnet waren. Einsam konnte man den Kessel übrigens nicht bezeichnen, denn hier drin tummelten sich zeitweise über 30 Personen. Viele legten eine längere Pause ein und entspannten sich in der Sonne, die scheinbar erst jetzt anfing zu strahlen und im Cirque wegen der zahlreichen Gipfel ringsherum ausgeschlossen war. Nach 20 Minuten Rast setzten wir die Reise zum Refuge Tighiettu fort, das wir bereits von hier oben sehen konnten. Der Weg dahin verlief über loses Gestein, war aber im Vergleich zum Vormittag gut begehbar.

Idylle und Frieden: Ein Pferdetreck schafft Lebensmittel zum Refuge Tighiettu.
Schon nach 30 Minuten saßen wir unter den massiven Balken dieser auf völlig unwegsamem Gelände erbauten Hütte und pausierten nochmals kurz. Unser Nachtlager wollten wir hier aber noch nicht aufschlagen, und so liefen wir weiter hinein ins Viru-Tal bis zur Bergerie de Ballone, der meiner Meinung nach besten Hütte auf dem GR-20. Das Erste, was wir uns gönnten, war ein kühles Pietra, das zweite ein frisches Käseomelett. Besser kann es nach so einem Tag nicht mehr kommen! Nachdem wir unsere Zelte innerhalb einer kleinen Befestigungsanlage aus Steinen, die dem Schutz vor Wildschweinen dient, aufbauten, machte ich mich auf den Weg zum ersten Badegumpen und ließ meine Seele im Wasser baumeln, bis ich eingenickt war. Kaltes, klares Wasser mit darauf spiegelnden Bergketten, die sich im Hintergrund aufbäumten und ein langgezogenes Tal, in das es am folgenden Tag hinein ging. Ich hörte näherkommende Geräusche, die sich nicht zuordnen ließen. Waren das Hufe? Ja, und kurz darauf überraschte mich ein Pferdetreck, der aus dem Gebüsch kam! Vier aneinandergebundene Pferde mit einem Reiter auf dem vordersten Pferd trugen Lebensmittel zum Refuge Tighiettu, das von hier noch wunderbar zu sehen war. Klar, einen Helikoptertransport, wie in den Alpen, konnte sich auf Korsika keiner leisten. Der Reiter ließ seine Tiere pausieren und der Badegumpen wurde zu einer Pferdetränke.

Bergerie de Ballone: Der ideale Ort nach einem adrenalinreichen Tag.
Nach einer letzten Erfrischung im Wasser, die Pferde waren schon längst an ihrem Ziel, lief ich zurück und verabredete mich mit Marcel auf der Terrasse der Bergerie. Wir bekamen das wohl größte Schinken-Baguette auf dem GR-20, während die Abenddämmerung über uns hereinbrach. Gemeinsam ließen wir den Tag Revue passieren, es war geschafft! Aber wurden unsere Erwartungen auch erfüllt? Ja! Den Cirque de la Solitude muss jeder mit eigenen Augen und Händen erfassen. Fotografieren kann man ihn nur sehr schlecht, selbst mit Weitwinkel lassen sich die Dimensionen kaum festhalten, dazu kommt, dass man an den kniffligen Stellen andere Sorgen hat, als die Kamera herauszuholen. Und ist der Cirque gefährlich? Schon, aber weniger wegen der Kletterstellen. Geht man die Sache ruhig und wohl überlegt bei gutem Wetter an, kann eigentlich nicht viel passieren. Die objektiv gesehen größte Gefahr ist der Steinschlag. Alles ging gut aus! Was würde jetzt noch auf dem Weg nach Conca passieren können? Die schwierigste Etappe lag hinter uns! Wir verschwanden eine Stunde nach der Dämmerung in unseren Zelten. Die Nacht war stockdunkel und die Sterne funkelten hell, es war Neumond.
Reisebericht als PDF?
Weitere Bilder und Kartenmaterial?
Hallo zusammen,
seit einiger Zeit habe ich einen ausführlichen Reisebericht zu der für mich bisher schönsten Trekkingtour online gestellt. Ich gebe zu, der Bericht ist umfangreich

Viel Spaß beim Lesen!
Eckdaten
Gebiet: Korsika (Frankreich)
Zeitraum: 31. August bis 18. September 2013
Route: Calenzana • Foret de Bonifatu • Refuge de Carozzu • Haut-Asco • Refuge Tighiettu • Bergerie de Ballone • Refuge Ciuttulu di i Mori • Castellu di Verghio • Refuge de Manganu • Refuge de Petra Piana • Refuge de l'Onda • Vizzavona • Refuge de Capannelle • Col de Verde • Refuge de Prati • Refuge d'Usciolu • Bergerie de Croce • Refuge d'Asinao • Col de Bavella • Refuge de Paliri • Conca
Anspruch: Anstrengender Hochgebirgsfernwanderweg durch schwieriges Gelände bei typischem Mittelmeerklima und atemberaubender Natur.
Höhepunkte: 180 Km und 12500 Hm • Windgeschwindigkeiten bis 12 Bft • Temperaturen von 0° bis 30°C • Cirque de la Solitude • Mittelmeer und Hochgebirge • Korsische Kekse und Maronenbier
Vorbereitung und Anreise
Samstag, 31. August und die Monate davor
Mein Segeltörn im Jahr zuvor entlang der Ostküste Korsikas hat mich auf den Geschmack gebracht, hat in mir geradezu Begeisterung für diese Insel ausgelöst. Keine langweilige Flachlandinsel aus Sand, Strandurlaubern und nichts weiter, sondern wilde, scharfkantige Steilklippen, Hochgebirge, kräftige Fallwinde und das weite Meer als Kontrast dazu. Eine kurze Recherche nach Wanderungen auf Korsika brachte es schnell ans Licht: Grande Randonnée 20, kurz GR-20, das einzig Wahre, ein Muss! Damit einher kamen Superlative wie "härtester Wanderweg Europas" oder "schönster Grande Randonnée" und immer wieder der Begriff "Cirque de la Solitude - Kessel der Einsamkeit". Das alles machte uns wahnsinnig neugierig, und so dauerte es nicht lange bis die Entscheidung für unsere Trekkingtour 2013 gefallen war. Den Großteil unserer Ausrüstung hatten wir nach zwei vorangegangenen Trekkingtouren in Norwegen und Schottland inzwischen beisammen. Nur hier und da optimierten wir einzelne Teile auf Gewicht, denn die von uns anvisierten 14 Tagesetappen waren ein langer Zeitraum, jedenfalls lang genug um dankbar auch für wenige Gramm Erleichterung auf dem Rücken zu sein. Als wir einen ersten Blick in unsere beiden Trekkingführer von Rother und Conrad Stein warfen, fiel uns die strikte Trennung des GR-20 in Nord- und Südteil auf. Der Nordteil enthält die spannenderen Kletterpassagen und gilt allgemein als anstrengender, der Südteil hingegen ist der ruhigere und sanftmütigere Teil des GR-20. Wir entschieden uns für den gesamten Weg und mussten später feststellen, dass der Unterschied zwischen beiden Teilen gar nicht so groß ist und das letzte Wort noch immer das Wetter zu sprechen hat.
Die zweite Grundsatzentscheidung bei der Planung ist die Richtung, in die man laufen möchte: Von Nord nach Süd oder umgekehrt. Die Sonne im Gesicht oder im Rücken. Die größten Anstrengungen zuerst oder zum Schluss. Und dann gibt es ja noch den Cirque de la Solitude, dem in manchen Reiseberichten ganze Seiten gewidmet werden und von dem wir bis jetzt keine konkrete Vorstellung hatten. Da wir Anfang September starten wollten, hielten wir es für ratsam, die kniffligen Passagen so schnell wie möglich hinter uns zu bringen um einem vielleicht früheren Kälteeinbruch besser im Süden des GR-20 zu begegnen. Wir planten und deckten uns mit topografischen Karten ein, planten weiter und eigentlich waren wir noch mitten in der Planung oder in der mentalen Vorbereitung, als es auf einmal soweit war. Der Rucksack war gepackt und das Gewicht meines Deuter lag wie schon in den Jahren zuvor über meinem Wunschgewicht bei letztendlich 19 Kilogramm ohne Wasser. Wir rechneten nicht damit, an jeder Hütte Verpflegung kaufen zu können und schleppten daher Nahrung für ca. eine Woche mit: Tütensuppen, Nudeln, 50 Energieriegel, Nüsse und zum ersten Mal verschiedene Sorten Pemmikan, einer nahrhaften Mischung aus Dörrfleisch und Fett. Beim letzten Gespräch am Abend vor dem Abflug, an dem wir unsere Packlisten ein letztes Mal kontrollierten, spürte ich eine ungewisse Aufregung in uns. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde: 12500 Höhenmeter und 180 Kilometer über zwei Wochen verteilt durch ein Hochgebirge wandern, das hatte noch keiner von uns gewagt. Konnte man das eigentlich noch Wandern nennen? Ich hoffte es!
Korsika gehört seit 1769 zu Frankreich, daher gilt Französisch als Amtssprache. Daneben existiert allerdings eine eigene italoromanische Sprache, die sich in den Jahrhunderten zuvor entwickelt hat und eine Mischung aus Italienisch und Französisch darstellt. Anbei ein ganz kleines Wörterbuch mit den wichtigsten Begriffen aus der korsischen Bergwelt:
- Auberge – Herberge
- Bergerie – Bauernhof
- Bocca – Bergrücken
- Brèche – Riss, Spalte
- Col – Gebirgspass, Sattel
- Crête – Grat, Kamm
- Gîte – Schlafstelle
- Lac – See
- Monte – Berg
- Passerelle – Brücke, Steg
- Punta – Gipfel, Spitze
- Rau – Fluss
- Refuge – Berghütte
- Ruisseau – Bach

Bastia: Blick auf den alten Hafen Le Vieux Port der wichtigsten Handelsstadt Korsikas.
Sehr früh musste der Wecker nicht klingeln, denn unser Flug ging erst am Nachmittag und mein Weg von Freiburg nach Stuttgart war deutlich kürzer als Marcels Anreise von Dresden. Vermutlich klingelte der Wecker in den folgenden zwei Wochen nie später als an diesem Tag, doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich zog mich in Ruhe an, nahm noch ein letztes Mal ein ordentliches Frühstück zu mir, hievte meinen Rucksack auf, zog die sauberen und am Vorabend imprägnierten Trekkingstiefel an und machte mich auf den Weg nach Stuttgart. Am Hauptbahnhof stieß ich auf Marcel, meinen Begleiter für die nächsten 18 Tage und Kumpel aus Kindheitstagen. Erschrocken stellten wir fest, dass wir doch tatsächlich die gleichen Wandershirts trugen, ein Albtraum für Individualisten, aber schon im nächsten Moment waren wir in Gedanken auf Korsika, dem Hochgebirge im Meer. Interessiert stellten wir im Warteraum fest, dass ein großer Teil der Passagiere ebenfalls in Wanderkleidung unterwegs war. Mit ein paar von ihnen kamen wir ins Gespräch und der GR-20, so stellte sich heraus, war bei keinem unbekannt, sondern bei allen Gesprächsthema Nummer Eins. Der Flug mit Germanwings verlief ohne Probleme, keine verloren gegangenen Rucksäcke wie in Norwegen oder Check-In Hürdenläufe durch das Flughafenterminal wie in Schottland. Der Anflug auf Bastia war beeindruckend, denn der Pilot steuerte zunächst an Bastia vorbei und flog eine Spitzkehre knapp über den ersten Gipfeln des Gebirges. Irgendwo dort unten sollte unsere Tour beginnen, auf irgendeinem dieser Gipfel würden wir stehen. Das Wetter war perfekt und der Pilot meldete über 30 Grad Celsius und wolkenfreien Himmel in Bastia.

Die Hafenpromenade von Bastia mit einer vor Anker liegenden Fähre.
Nach dem üblichen Prozedere und der Entgegennahme unserer Rucksäcke standen wir schließlich vor dem Flughafen. Vorsichtshalber hatten wir für die erste und letzte Nacht eine günstige Unterkunft in Bastia gebucht um genügend Zeitpuffer für den Abflug zu haben und den ersten Bus oder Zug am frühen Morgen nach Calenzana, dem Startpunkt des GR-20, zu bekommen. Leider ist der Ruf der öffentlichen Verkehrsmittel auf Korsika verheerend was Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit betrifft und wir waren drauf und dran uns mit anderen Wanderern zusammenzuschließen und ein Taxi bis Calenzana zu nehmen. Der Preis von 180 Euro war den beiden am Flughafen getroffenen Deutschen allerdings zu hoch und nach Absprung dieser beiden entschieden auch wir uns für die ursprünglich geplante Übernachtung in Bastia, auch wenn wir dadurch fast einen ganzen Tag verlieren würden. Ein Bus, der seine besten Tage schon hinter sich hatte, brachte uns anschließend ins Stadtzentrum von Bastia. Während die Klimaanlage auf Hochtouren lief überlegten wir zusammen mit dem Pärchen aus Karlsruhe wie wir am nächsten Morgen am schnellsten nach Calenzana kommen konnten. Es gab zwei Möglichkeiten: Bahn oder Bus. Schiene oder Straße. Was würde zuverlässiger sein? Wir entschieden uns für den Bus und die anderen beiden für die Bahn und wir bereuten unsere Entscheidung nicht! Den Rest des Abends verbrachten wir mit einem Spaziergang entlang der Uferpromenade und aßen ein letztes Mal etwas Vernünftiges. Aber was? Ich vergaß zu erwähnen, dass wir fast kein Wort Französisch sprachen. Mein kleines Reisewörterbuch war schnell überfordert und musste sich gegen unsere ausgewachsene französische Speisekarte klar geschlagen geben. Wir bestellten einfach einen Cheeseburger mit Pommes und Salat! Anschließend verschwand Marcel Richtung Herberge, während ich noch ein wenig frische Meeresluft atmen ging, meinen Gedanken freien Lauf ließ und die ganzen Erinnerungen verarbeitete, die auf einmal wiederkamen. 17 Monate war es schon wieder her, als ich an dieser Küste entlang segelte und mir dachte, dass es hier doch sicher ein paar nette Wanderungen geben müsste. Eine Stunde später lag ich im Bett.
Trockenheit und Mittagshitze
Sonntag, 1. September | Calenzana - Foret de Bonifatu

Gefunden: Der Zugang des GR-20 mit Conca als Ziel am anderen Ende der Insel.
Pünktlich war er schon, unser kleiner gemütlicher Bus. Nur der exakte Haltepunkt war etwas schwierig zu finden. Alle Trinkflaschen waren gefüllt, der Rucksack mit seinen inzwischen 22 Kilogramm wurde im Kofferraum verstaut und wir nahmen in einer der vorderen Reihen Platz. Aus dem Radio schwang gut gelaunte französische Volksmusik und als der Bus endlich losschaukelte summte unser Busfahrer freudig mit. Genau so stellte ich mir das Leben hier vor. Gemütlich, gut gelaunt und ohne Stress! Zunächst fuhren wir Richtung Süden um auf die Passstraße zu gelangen, die uns durch den nördlichen Zipfel des Gebirges führte. Nach etwa drei Stunden Fahrt kam das Meer wieder in Sicht, jetzt würde es nicht mehr weit sein. Wir verständigten uns mit dem Busfahrer, nutzten Hände und Füße, damit er uns schon vor Calvi, der größten Hafenstadt an der Nordküste Korsikas und Endstation unseres Busses, auf der Straße absetzte. Von der Küstenstraße bis nach Calenzana waren es etwa 10 Kilometer landeinwärts in brütender Hitze zu laufen. Da uns auf dieser Nebenstraße hin und wieder tatsächlich ein Auto überholte, versuchte ich mein Glück und hielt einen Daumen raus. Bereits das dritte Auto hielt an und die Fahrerin, eine zugewanderte Italienerin, winkte uns zu sich. Sie erzählte uns zwei drei Sätze über ihr Leben hier auf Korsika und schon waren wir in Calenzana, einem etwas ausgetrockneten Dorf am Fuß eines großen Berghangs.

Sonnengebräuntes Erlengestrüpp und erste Felsen ließen nicht lange auf sich warten.
Trotz der unerwarteten Taxifahrt war es jetzt schon 13 Uhr und wir hatten die Wahl: Einen Zeltplatz suchen und am nächsten Morgen früh los oder sofort starten - trotz fortgeschrittener Stunde - und das Risiko eingehen von der Dunkelheit überrascht zu werden. Glücklicherweise gab es noch eine dritte Möglichkeit: Sofort und wie geplant los laufen und auf halbem Weg den Abzweig nach Foret de Bonifatu nehmen, einem alternativen Einstiegspunkt auf den GR-20. Wir wollten endlich hinauf auf die Berge, der Hitze auf Meeresspiegelniveau entkommen und keinen weiteren Tag verlieren - wer wusste schon wann wir den noch brauchen würden. Die Entscheidung war schnell gefallen und der Zugang zum GR-20 ebenso schnell gefunden. Ein paar Spritzer Sonnencreme auf die Haut, Rucksäcke sattelfest gemacht und kaum hatten wir das letzte Haus von Calenzana hinter uns gelassen, ging es ohne Ausnahme steil bergauf. Bereits nach einer Stunde erblickten wir wieder das Meer und sahen auf den vorerst letzten Ort hinab. Der Weg schlängelte sich durch eine staubtrockene Einöde weiter hinauf und schon war der erste Liter Wasser verbraucht. Langsam hielten wir Ausschau nach der Alternativroute Richtung Foret de Bonifatu, denn laut unserem Kartenmaterial müsste es jederzeit soweit sein. Ein nicht mehr lesbarer Wegweiser überzeugte uns und wir schlugen eine neue Richtung ein, doch nach diesem Wegweiser kam nichts mehr.

Zum Ende eines jeden Sommers: Das ausgetrocknete Flussbett des Figarella.
Es ging verdächtig steil bergab und die Kurven, die der neue Pfad nahm, stimmten uns nachdenklich. Erschrocken nahmen wir plötzlich zur Kenntnis, dass wir am Horizont vor uns ein Dorf sahen, dass nur Calenzana heißen konnte. Was für ein Ärger! Bis wir zurück an der Gabelung mit dem nicht mehr lesbaren Wegweiser waren, hatten wir eine gute Stunde vergeudet. Als wir schließlich den richtigen Weg fanden ging es quer über mehrere Hügel, an Dornengestrüpp vorbei, durch neue Senken und über weitere Hügel hinüber. Das Wasser neigte sich weiter dem Ende entgegen bis wir genau zum richtigen Zeitpunkt eine erste Quelle fanden. Das aus einem Wiesenhang hinausragende Eisenrohr versprühte kaltes Wasser, perfekt zum Erfrischen, und so legten wir eine kurze Pause ein, aßen zwei Riegel und nahmen anschließend den Rest des Weges in Angriff. In den Stunden bis zu unserem Etappenziel kreuzten wir den Figarella, einen Fluss, an dem wir Wasser auffüllen wollten, der aber fast vollständig ausgetrocknet war. Wir wuselten durch enges Gestrüpp einen Trampelpfad hinauf und fluchten über die üblichen Unannehmlichkeiten eines ersten Wandertages, die ein schwerer Rucksack oder feste Bergschuhe mit sich bringen. Es war bereits zu fortgeschrittener Abenddämmerung, als wir im Foret de Bonifatu unsere Zelte auf steinreichem Untergrund aufbauten und uns abends eine gekühlte Orangina und ein Weißbrot gönnten. Die seit längerem erste Nacht im Zelt war ungewohnt, die Lage seitlich abfallend und daraus schlussfolgernd die Erholung schlecht.
Der Norden vergibt nicht
Montag, 2. September | Foret de Bonifatu - Haut-Asco

Refuge de Carozzu: Das erste typische Refuge auf unserem Weg.
Erbarmungslos klingelte der Wecker 6 Uhr 30! Nachdem wir unsere Ausrüstung verpackt und die Wasserflaschen aufgefüllt hatten sowie uns zum Frühstück das restliche Weißbrot vom Vorabend zusammen mit zwei Energieriegeln schmecken ließen, war es schon 7 Uhr 45. Damit waren wir, abgesehen von einer vierköpfigen Familie mit Kindern, die Letzten, die sich auf den Weg zum Refuge de Carozzu machten. An den neuen Rhythmus hatten wir uns also noch nicht gewöhnt, aber das sollte noch kommen. Der Weg führte uns durch Laubwälder über die nördlichen Teile des Mare e Monti, einem weniger bekannten Fernwanderweg, bis er schließlich steil bergauf zum Refuge de Carozzu und zurück auf den eigentlichen GR-20 führte. Bis jetzt waren wir uns nicht sicher gewesen, ob wir die folgende Etappe bis Haut-Asco gleich mit angehen sollten. Der Wetterbericht der Hüttenwirtin im Refuge sagte Regen und Starkwind vorher und unser Trekkingführer mahnte die erste schwere Etappe des GR-20 an, doch es war gerade erst Mittag und wir fühlten uns nach einer guten Pause wieder ausreichend gestärkt. Eine kurze Erfrischung an der nicht weit entfernten Wasserquelle und es ging weiter über Wurzeln und Baumstümpfe.

Die berühmte Hängebrücke markiert den Einstieg zu den ersten alpinen Abschnitten.
Nach nur wenigen Minuten erreichten wir erstmals die Baumgrenze und aus einem festgetretenen Waldpfad wurde ein kleiner Klettersteig über schräge Steinplatten und entlang mit Eisenketten bestückter Felsabschnitte. Irgendwann, als uns der Weg immer weiter und höher führte, legten wir eine weitere Pause ein und genossen die herrliche Aussicht auf die schroffen Felsformationen und engen Täler. Von der Regenfront war glücklicherweise noch nichts zu sehen als uns zwei Deutsche entgegen kamen, den GR-20 also von Süd nach Nord liefen und ihr Ziel Calenzana so gut wie erreicht hatten. Respekt dachten wir, die haben es bald geschafft! Eine kurze Frage nach den Bedingungen im Cirque de la Solitude, ab sofort nur noch Cirque genannt, wurde mit einem Grinsen beantwortet. Was das wohl bedeuten sollte? Langsam aber stetig stießen wir weiter in die alpinen Abschnitte vor, während der Himmel sich mehr und mehr verfinsterte. Trocken würden wir Haut-Asco heute bestimmt nicht erreichen! Das war zu diesem Zeitpunkt aber egal, denn die Hitze war trotz der Höhe und der sich schließenden Wolkendecke weiterhin präsent und ein kurzer Schauer käme uns gelegen. Wir überquerten soeben die Bocca di a Muvrella (2025 m), ungefähr auf dem höchsten Punkt dieser Etappe, gerade während wir zu einer größeren Gruppe aus Osteuropa aufschlossen, die sich vor einer Engstelle mit Klettereinlage sammelten, als die ersten Regentropfen fielen. Und hier wurde uns das erste Mal bewusst, dass Korsika eben nicht Norwegen ist und der GR-20 tatsächlich sehr bekannt sein muss.

Wer im Norden beginnt findet sich sehr schnell inmitten von Gipfeln wieder.
Auf engen Serpentinen überholten wir einen nach dem anderen, bis wir den Großteil der Gruppe hinter uns hatten während der Regen stärker wurde. Wie so oft entscheidet man sich erst dann für den Regenschutz, wenn es eigentlich schon zu spät ist. So auch hier! Als wir die Regenjacken überzogen und die Rucksäcke abdichteten, goss es bereits wie aus Eimern. Der steiler werdende Pfad hinab ins Tal verwandelte sich innerhalb von Sekunden von einem Rinnsal in einen fließenden Strom, welcher sich, je weiter man ins Tal fortschritt, immer öfter verzweigte. Erfreut sahen wir, wie einer der fortgeschrittenen Bergwanderer einzelnen Personen aus der Gruppe unter die Arme griff. Wir halfen derweil einem Einzelgänger beim Überziehen seines Ponchos, was in diesem Abschnitt allein etwas mühselig war. Noch immer konnten wir unser Etappenziel im weiten Tal nicht ausfindig machen. Mit dem Hosenboden rutschten wir an glatten Felsabsätzen entlang, während das strömende Regenwasser von oben und unten auf uns einbrach. Trotz Zelt im Rucksack hofften wir jetzt auf einen freien Platz im Gîte. Kurz nach einer weiteren Kletterpassage auf einer glitschigen Gesteinsplatte passierte es: Ich blieb mit meinem rechten Schuh in einem engen Spalt hängen, konnte mich mit dem linken Fuß abfangen und verknackste mir diesen dabei. Auch das noch! Nach einer zehnminütigen Pause liefen bzw. humpelten wir weiter, alles natürlich ein wenig langsamer.

Kurz vor Regeneinbruch auf 2000 Metern: Die Aussicht von der Bocca di a Muvrella.
Erst gegen 16 Uhr, als der Regen langsam nachließ, machten wir unser Ziel aus: Haut-Asco! Versteckt hinter Bäumen und vor einem tief abfallenden Tal. Der steinige Abstiegspfad wandelte sich langsam zu einem Wurzelpfad, durch dichten Kiefernwald führend und immer steiler fallend, bis wir von einem Moment auf den anderen auf einem breiten Forstweg landeten und vor uns ein brüchiges Steinhaus und dahinter ein futuristisch anmutendes Holzgebäude fanden. Schnell ließ ich meinen Rucksack bei Marcel und verschwand für etwa zehn Minuten im Steinhaus. Alles voll! Die Plätze im Gîte waren bei schlechtem Wetter begehrt und den letzten Schlafplatz hatte derjenige bekommen, dem wir mit seinem Poncho geholfen hatten. Wir wussten nicht, was sich in dem großen Holzgebäude befand, daher liefen wir dort als nächstes hin und sahen bald, dass es sich um ein Hotel mit Restaurant handelte. Vor wenigen Jahren entstand hier ein großes Skigebiet, mitten in den korsischen Bergen und irgendwie deplatziert. Ein Zimmer war noch frei! Wir überlegten nicht lange und nahmen es ohne zu zögern. Ein Hotel entspricht zwar nicht unseren Vorstellungen eines Abenteuers im Hochgebirge, aber wir waren klatschnass und wollten dem Kessel der Einsamkeit am nächsten Morgen ohne größere Handicaps begegnen. Die schwierigste Etappe des GR-20 stand uns bevor. Den Rest des Tages trockneten wir unsere Ausrüstung mit einem kleinen Fön und entschieden uns während des Abendbrots den ersten Ruhetag bereits morgen einzulegen. Den Cirque wollte ich nicht mit angeknackstem Fuß durchklettern!

Das Gîte in Haut-Asco: Hier legten wir den ersten und letzten Ruhetag ein.
Es war der erste und letzte Ruhetag auf unserer Tour. Kurz nach dem Aufstehen packten wir unseren Kram zusammen, nahmen ein Frühstück aus Haferriegeln zu uns und gingen hinüber ins Steinhaus. Für die zweite Nacht in Haut-Asco wollten wir die ersten im Gîte sein und uns eine Schlafstelle sichern. Die Hüttenwirtin verkaufte frisches Weißbrot und zusammen mit Kartoffelpulver und dem oft gelobten Pemmikan aus unserem Rucksack mischten wir eine ganz gut verträgliche und stark sättigende Pampe an. Gegen 13 Uhr kamen die ersten Wanderer an und fielen über die freien Zimmer im Gîte her. Ein einzelner Franzose, den wir später noch viele Male wiedersehen würden, stieß erstmals zu uns und wir teilten zusammen ein Zimmer. Den Rest des Tages erkundeten wir die Gegend um Haut-Asco, ein Plateau auf einem Hang mit einer schmalen Straße, die aus dem Asco-Tal empor kroch und hier endete. Auf der dem Abstieg vom Vortag gegenüberliegenden Seite hatte man den höchsten Berg Korsikas vor sich, den Monte Cinto (2706 m) mit seinen ausgeprägten Graten. Mein Blick folgte weiter dem Hang hinauf und traf auf die Punta Minuta (2556 m), hinter diesem Berg musste sich der Cirque befinden und die Aufregung nahm zu. Viele, die den GR-20 gelaufen sind, beschreiben den Cirque auf eine ungewohnt latente, fast mystische Art und Weise, wie ein Erlebnis, dass anders abgelaufen ist, als man es erwartet hat. Wir blieben bei den Fakten, und die sagen, dass der Cirque die Schlüsselstelle auf dem GR-20 ist. Wer hier nicht weiter kommt, kann alternativ nur die kräftezehrende Route über den Monte Cinto nehmen oder muss wieder umdrehen. Wir studierten noch eine Weile unser Kartenmaterial und malten uns verschiedene Szenarien aus, falls es am Cirque doch nicht so laufen sollte, wie geplant. Ansonsten ist an diesem Tag nicht viel mehr passiert, und da wir am nächsten Morgen die Ersten am Berg sein wollten, um den Andrang an den Kletterstellen und die Gefahr eines Steinschlags zu minimieren, verschwanden wir schon früh im Bett. Der Wecker war auf 5 Uhr 15 gestellt!
Der Kessel der Einsamkeit
Mittwoch, 4. September | Haut-Asco - Bergerie de Ballone
Bereits vor 5 Uhr wachten wir auf und warteten auf den Bon Jovi Song aus meinem Handy. Während der Franzose in unserem Zimmer noch schlummerte, machten wir leise unsere Rucksäcke abmarschbereit, legten die Stirnlampen und zwei Riegel zurecht und gingen nach unten in den Mannschaftsraum. Hier wurde an einer großen Tafel das Frühstück für eine größere Gruppe von Wanderern zurecht gemacht, einem sympathischen Haufen aus Engländern, wie wir später herausfinden sollten. Der Geruch von Rührei und frisch belegten Brötchen stieg uns in die Nase und weckte den Neid in uns als wir wieder auf unsere Haferriegel schauten. Der Großteil der Wanderer war jetzt munter und setzte sich an den langen Tisch, die meisten mit ernstem Blick - ihnen stand heute ebenfalls der Cirque bevor. Gegen 5 Uhr 50, gerade als die Hütte voll und es immer lauter wurde, zogen wir unsere Jacken über und rückten die Stirnlampen zurecht. Wir waren, abgesehen von zwei Alleingängern, tatsächlich die Ersten auf dem Weg zum Cirque - und es war dunkel und still.

Morgendämmerung 6 Uhr 50: 1 Stunde und 300 Höhenmeter lagen bereits hinter uns.
Hinter dem Steinhaus verlief der Weg einmal quer über das gesamte Plateau und verschwand kurz darauf in einem kleinen Birkenwäldchen. Es war ein überwältigendes Gefühl so früh am Morgen unterwegs zu sein. Die beiden Lichtkegel unserer Stirnlampen reichten gerade aus, um über das nächste Hindernis zu steigen. Im offenen Gelände wäre es schwierig gewesen die Zeichen des GR-20 zu orten, aber der Weg war eng und eindeutig. Nach 90 Minuten, das Birkenwäldchen lag schon lange hinter uns, kroch das Morgenrot die Felswände hinauf. Die schönsten Sonnenaufgänge sollte man angeblich hier beobachten können, aber dafür waren wir 30 Minuten zu spät losgelaufen. Als wir den ersten Blick auf das Meer erhaschen konnten, war die Dämmerung fast vorüber, das Farbenspiel war dennoch beeindruckend. Die Schatten der Nacht verschwanden und machten den Lichtspielen der Berge platz. Der Aufstieg wurde anstrengender, das Gelände steiler und verblockter und die ersten Klettereien ließen nicht lange auf sich warten. Doch bis jetzt blieb es angenehm kühl - sobald uns die Sonnenstrahlen näher kamen, führte uns der GR-20 hinter den nächsten Berg.

Nahe der Bocca Tumasginesca: Ein letzter Blick in das zurückliegende Tal...
Da wir das Höhenprofil dieser Etappe auswendig kannten, wussten wir, dass es nach einer kleinen Senke und einem See noch einmal kurz und knackig nach oben gehen und dort der Cirque auf uns warten würde. Der Schwindeltest, wie unser Trekkingführer den Cirque beschrieben hatte, stand uns kurz bevor. Als es immer weiter hinauf ging und wir uns langsam fragten, ob der Cirque de la Solitude eine Erfindung der Bergbauern sei um dem Ansturm der Wanderer Herr zu werden, standen wir gegen 8 Uhr 30 auch schon vor ihm. Völlig unscheinbar verliefen die Markierungen des GR-20 über einen Bergsattel, auf dem ein paar Leute Rast machten. Die aufkommende Frage, ob hier nicht bald der Cirque auftauchen müsste, wurde gleichzeitig mit dem Blick auf einen etwas unheimlich wirkenden Abgrund beantwortet. Wir befanden uns hier auf der Bocca Tumasginesca (2183 m) an der Westflanke der Punta Minuta und fragten uns, wie man da hinunter soll. Der Kessel der Einsamkeit lag vor uns, jetzt hieß es: Stöcke festbinden und alles verstauen, was hinderlich sein könnte, die Hände mussten frei sein. Hinter uns kamen bereits die nach uns gestarteten Wanderer in Sicht, wenn jetzt auch noch die Frühaufsteher aus der Gegenrichtung Süd-Nord kämen, dann würde es unangenehm eng werden. Wir wollten keine Zeit verlieren und machten uns auf - 250 Meter hinein in den Kessel und 300 Meter auf der anderen Seite wieder heraus.

...bevor wir für zwei Stunden im Kessel der Einsamkeit verschwanden.
Schon nach wenigen Metern kamen die ersten Eisenketten in Sicht. Schritt für Schritt kletterten wir nach unten, teilweise auf Rillen innerhalb von Steinschrägen und oft auf der Suche nach der nächsten festen Trittmöglichkeit, was mit 20 Kilogramm auf dem Rücken nicht immer eindeutig feststellbar war. Immer wieder hörten wir loses Gestein herunterrollen, welches von Leuten abseits der Markierungen losgetreten wurde, zum Glück kam es meist schnell zum Erliegen. Die mit Ketten gesicherten Abschnitte hörten bald auf und es ging nicht weniger steil ohne Sicherung weiter. An Griffen und Tritten hat es so gut wie nie gemangelt und der Fels im Cirque ist sehr scharfkantig und fest, doch bei Sturm und Regen sollte man diese Etappe abbrechen. Eine Gruppe von Franzosen lief erneut abseits der Wege und wagte sich an den Abgrund heran. Es passierte was passieren musste: Gesteine von der dreifachen Größe eines Kopfes kamen ins Rollen und verlangsamten sich dieses Mal nicht. Der Warnruf "Attention!" kam viel zu spät und nicht einmal von den Verursachern selbst, sondern von den Leuten, die bereits abstiegen und an den Ketten hingen. Die meisten versuchten in Deckung zu gehen und hatten Glück, dass die großen Steine am anderen Ende der Abstiegswand nach unten sprangen. So auch Marcel, an dem ein kopfgroßes Exemplar etwa drei Meter entfernt vorbeischoss.

Pausieren und Posieren: Auf der Bocca Minuta wurde der Cirque gefeiert.
Der Boden des Kessels kam langsam näher, gerade als die Kletterei anfing Spaß zu machen. Fließend ging die Felswand, an der wir seit einer guten Stunde klebten, über zu einem Geröllhaufen bis zum anderen Ende des Kessels. Jetzt kam der anstrengende Teil des Cirque! Nach einer kurzen Pause machten wir uns an den Aufstieg - keine Minute zu früh, wie wir an den vielen Leuten sahen, die hinter uns an der Wand hingen. Technisch gesehen ist es aufwärts meist einfacher, dennoch bot auch der Aufstieg zur Bocca Minuta (2218 m) die eine oder andere knifflige Stelle und mehrere kurze Kletterpassagen. Die letzten 100 Höhenmeter verlief der Pfad über extrem steile Geröllhänge, auf denen vor allem Rücksicht auf nachfolgende Wanderer genommen werden musste. Pünktlich 12 Uhr und heftig atmend standen wir auf dem höchsten Punkt dieser Etappe. Die Aussicht war atemberaubend! Hier oben trafen wir viele der Wanderer wieder, die uns bereits im Kessel der Einsamkeit begegnet waren. Einsam konnte man den Kessel übrigens nicht bezeichnen, denn hier drin tummelten sich zeitweise über 30 Personen. Viele legten eine längere Pause ein und entspannten sich in der Sonne, die scheinbar erst jetzt anfing zu strahlen und im Cirque wegen der zahlreichen Gipfel ringsherum ausgeschlossen war. Nach 20 Minuten Rast setzten wir die Reise zum Refuge Tighiettu fort, das wir bereits von hier oben sehen konnten. Der Weg dahin verlief über loses Gestein, war aber im Vergleich zum Vormittag gut begehbar.

Idylle und Frieden: Ein Pferdetreck schafft Lebensmittel zum Refuge Tighiettu.
Schon nach 30 Minuten saßen wir unter den massiven Balken dieser auf völlig unwegsamem Gelände erbauten Hütte und pausierten nochmals kurz. Unser Nachtlager wollten wir hier aber noch nicht aufschlagen, und so liefen wir weiter hinein ins Viru-Tal bis zur Bergerie de Ballone, der meiner Meinung nach besten Hütte auf dem GR-20. Das Erste, was wir uns gönnten, war ein kühles Pietra, das zweite ein frisches Käseomelett. Besser kann es nach so einem Tag nicht mehr kommen! Nachdem wir unsere Zelte innerhalb einer kleinen Befestigungsanlage aus Steinen, die dem Schutz vor Wildschweinen dient, aufbauten, machte ich mich auf den Weg zum ersten Badegumpen und ließ meine Seele im Wasser baumeln, bis ich eingenickt war. Kaltes, klares Wasser mit darauf spiegelnden Bergketten, die sich im Hintergrund aufbäumten und ein langgezogenes Tal, in das es am folgenden Tag hinein ging. Ich hörte näherkommende Geräusche, die sich nicht zuordnen ließen. Waren das Hufe? Ja, und kurz darauf überraschte mich ein Pferdetreck, der aus dem Gebüsch kam! Vier aneinandergebundene Pferde mit einem Reiter auf dem vordersten Pferd trugen Lebensmittel zum Refuge Tighiettu, das von hier noch wunderbar zu sehen war. Klar, einen Helikoptertransport, wie in den Alpen, konnte sich auf Korsika keiner leisten. Der Reiter ließ seine Tiere pausieren und der Badegumpen wurde zu einer Pferdetränke.

Bergerie de Ballone: Der ideale Ort nach einem adrenalinreichen Tag.
Nach einer letzten Erfrischung im Wasser, die Pferde waren schon längst an ihrem Ziel, lief ich zurück und verabredete mich mit Marcel auf der Terrasse der Bergerie. Wir bekamen das wohl größte Schinken-Baguette auf dem GR-20, während die Abenddämmerung über uns hereinbrach. Gemeinsam ließen wir den Tag Revue passieren, es war geschafft! Aber wurden unsere Erwartungen auch erfüllt? Ja! Den Cirque de la Solitude muss jeder mit eigenen Augen und Händen erfassen. Fotografieren kann man ihn nur sehr schlecht, selbst mit Weitwinkel lassen sich die Dimensionen kaum festhalten, dazu kommt, dass man an den kniffligen Stellen andere Sorgen hat, als die Kamera herauszuholen. Und ist der Cirque gefährlich? Schon, aber weniger wegen der Kletterstellen. Geht man die Sache ruhig und wohl überlegt bei gutem Wetter an, kann eigentlich nicht viel passieren. Die objektiv gesehen größte Gefahr ist der Steinschlag. Alles ging gut aus! Was würde jetzt noch auf dem Weg nach Conca passieren können? Die schwierigste Etappe lag hinter uns! Wir verschwanden eine Stunde nach der Dämmerung in unseren Zelten. Die Nacht war stockdunkel und die Sterne funkelten hell, es war Neumond.
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