Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compostela

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  • Sternenstaub
    Alter Hase
    • 14.03.2012
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    • Meine Reisen

    #21
    AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

    ein sehr interessantes Gespräch habt ihr da geführt, da hätte ich gern zugehört.
    Ich finde es immer wieder spannend und schön, was für unterschiedliche (und auch tolle) Leute man beim Unterwegssein trifft. Das macht für mich die Hälfte des schönen an einer Reise aus.
    Two roads diverged in a wood, and I—
    I took the one less traveled by,
    And that has made all the difference (Robert Frost)

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    • joeyyy
      Erfahren
      • 10.01.2010
      • 198
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      • Meine Reisen

      #22
      AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

      Zitat von gargantula Beitrag anzeigen
      Da hat man wirklich was zum nachdenken. Danke für das Teilen deiner Gedanken.
      ...gern geschehen. Ja, das Nachdenken auf Reisen und auch zuhause ist das, was wir "Leben" nennen Am Ende findet alles in unseren Köpfen statt.

      Zitat von Sternenstaub Beitrag anzeigen
      ein sehr interessantes Gespräch habt ihr da geführt, da hätte ich gern zugehört. Ich finde es immer wieder spannend und schön, was für unterschiedliche (und auch tolle) Leute man beim Unterwegssein trifft. Das macht für mich die Hälfte des schönen an einer Reise aus.
      ...und genau deshalb muss man gar nicht so weit reisen. Im letzten Greenpeace-Magazin ist ein wunderbarer Bericht über das Reisen vor der Haustür, über das einfache Losgehen und über spannende Begegnungen mit unterschiedlichsten Charakteren.

      Man muss nur eine fragende Grundhaltung bewahren. Wie die Kinder. Wer immer alles schon weiß, wird nix Neues mehr lernen.

      https://www.greenpeace-magazin.de/si...16_e-paper.jpg

      Gruß

      Jörg.
      Zuletzt geändert von November; 15.03.2016, 20:57. Grund: Bild in Link umgewandelt
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      • Muskat
        Erfahren
        • 04.08.2010
        • 497
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        • Meine Reisen

        #23
        AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

        @ joeyyy
        Danke für den Bericht und die offenen Gedanken! Klingt fast ein bischen nach einer Art von Midlife-Crisis...glaube ich aber nicht!
        Wenn ich es nicht mache, dann macht es ein Anderer...
        Kapitalismus

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        • joeyyy
          Erfahren
          • 10.01.2010
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          #24
          AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

          Zitat von Muskat Beitrag anzeigen
          @ joeyyy
          Danke für den Bericht und die offenen Gedanken! Klingt fast ein bischen nach einer Art von Midlife-Crisis...glaube ich aber nicht!
          ...ups, nö, davon bin ich - zumindest aus meiner Innenperspektive - weit entfernt. Das Spannende am Denken ist für mich, dass ich immer wieder auf mich zurückgeworfen bin und mir somit gar nicht ausweichen kann.

          Wenn ich von Freunden und Zuhause weg reise, muss ich mich selbst immer mitnehmen. Ich kann mich ja nicht zuhause lassen. Und damit ist eine Reise immer auch eine Reise mit mir und zu mir. Und dann entstehen solche Gedanken, die vielleicht manchmal umständliche Wege gehen und auch so formuliert sind, aber am Ende Klarheit in meinen Positionen für mich schaffen.

          Und eine Krise ist ja normalerweise durch Unsicherheit, Zweifel und Zukunftsnebel geprägt.

          Also: Wenn eine Krise mit sich selbst durch Unklarheit geprägt ist, ist das Reisen und das damit verbundene Schaffen von Klarheit ein wunderbares Rezept GEGEN irgendwelche Lebenskrisen. Für mich jedenfalls. Und so empfinde ich das auch.

          Gruß

          Jörg.
          Zuletzt geändert von joeyyy; 16.03.2016, 12:10. Grund: reschtchreipvähler pesaiticht
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          • joeyyy
            Erfahren
            • 10.01.2010
            • 198
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            • Meine Reisen

            #25
            AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

            ---

            8.10.2015 – Aus den Pyrenäen nach Pamplona oder: You are not in Spain!

            ---



            ---

            Ich wusste gar nicht, dass ich bereits seit Bayonne pilgere. Auf dem Jakobsweg. Na, mein Ziel ist ja auch Santiago de Compostela. Ich bin gespannt, ob ich mich von der Pilgerstimmung hier einfangen lassen kann. Bisher habe ich zwar ein paar Zeichen gesehen, aber noch nicht viel mitbekommen.

            Heute sitze ich schon um neun auf dem Rad und fahre eine Via Verde über eine stillgelegte Eisenbahnstrecke. Es regnet zwar nicht mehr, aber es ist kalt und neblig. Ich freue mich auf die Wärme in der spanischen Ebene. Nach rund zehn Minuten habe ich alle Regenklamotten an, die ich in den Packtaschen finden konnte. Gamaschen für Hände und Füße, Regenhose, Regenjacke. Zum Glück geht es nur sanft bergauf, so dass mir nicht warm und kalt zugleich wird.

            Mir wird immer wieder verdeutlicht, dass ich weder durch Frankreich noch durch Spanien fahre sondern durch Pais Vasco. Durch das Baskenland. Mit „Land“ meinen die hier aber nicht so etwas wie das Wendland oder das Rheinland sondern eher so etwas wie Deutschland. Die Ortsnamen, die Sprache, die Kleidung, ja sogar der Schriftschnitt vieler Firmen, Plakate, Hotels, Bars und sonstiger Schilder ist baskisch. Mir gefällt das. Die Basken sind Rebellen auf unauffällige, aber deutliche Weise. Mich erinnert das an meine Tour durch Bayern, wo die Bauern auch rebellisch sind und sich gegen die Vorgaben aus Brüssel auflehnen. Mir san mir – das heißt dort nicht nur, dass alle anderen die Bayern mal sonstwas können sondern eben auch, dass sie sich nicht weichspülen oder konformieren lassen.

            Manchmal wäre ich auch gern Teil einer besonderen Volksgruppe mit ihren Besonderheiten. Bin ich nicht. Hannover – normaler und standardisierter geht’s wohl kaum mehr. Jeder, der damit etwas Besonderes darstellen will, macht sich lächerlich. Außer – halt! Das „Nichts Besonderes“ ist es, was die Niedersachsen ausmacht. Sie sind irgendwie so „mittel“, was ja immer auch als „golden“ gesehen wird. Oder als angemessen. Gut, damit kann ich leben. Es hat doch auch etwas, wenn ich jetzt nicht über ein nicht angemessenes Zurschaustellen von kulturellen Besonderheiten einer Minderheit, die quichotin um die Unabhängigkeit kämpft, permanent mit missionarischem Eifer die Mehrheit der Menschheit mit meinen Zielen bedrängen muss. Kurz: Es ist durchaus vorteilhaft, Niedersachse zu sein.

            Nun pedaliere ich die Berge hoch. Auf Höhe 850 Meter habe ich den höchsten Pass hier erreicht. Ja, und es ist kalt. Jetzt ziehe ich bergab auch noch die Handschuhe drunter. Und ich fahre auf der Südseite der Pyrenäen bergab, so dass die Sonne mich ein wenig wärmen kann.

            Gegen fünf Uhr nachmittags erreiche ich Pamplona und entscheide, noch eine Nacht in einer Herberge zu schlafen. Hier nun fängt mich der Geist des alten Jakob ein. Mein Großvater hieß übrigens auch Jakob – Opa, ich denk‘ an dich! In der für die Encierros, die Stierläufe zum Fest Sanfermines, berühmten Hauptstadt Navarras gibt es viele Kirchen, Klöster, Muschelzeichen und in der Innenstadt: Wanderer, Pilgerer. Mein GPS führt mich zu einer Albergue Peregrino, wo ich für 14 Euro ein Bett in einem 20-Betten-Zimmer bekomme. Mit Frühstück zwischen 6:30 und 8:15 Uhr. Um 8:30 Uhr muss ich draußen sein. Das sind die Bedingungen. Der Pilger-Biorhythmus ist definitiv nichts für mich. Aber die heiße Dusche und die freundlichen Leute laden mich gerade zu ein, das mal auszuprobieren. Am Abend schaue ich mir noch ein wenig Pamplona – sorry, Basken: Iruña – an und genieße den lauen Abend zwischen den vielen Leuten, die hier drinnen und draußen sitzen und dieses wunderbare mediterrane Flair versprühen.

            ---

            Mehr Bilder gibt es hier (klick)

            ---

            Fortsetzung folgt.

            Gruß

            Jörg.
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            • Werner Hohn
              Freak
              Liebt das Forum
              • 05.08.2005
              • 10870
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              • Meine Reisen

              #26
              AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

              Zitat von joeyyy Beitrag anzeigen
              ... Die Basken sind Rebellen auf unauffällige, aber deutliche Weise.
              So unauffällig, dass mehr als 40 Ermordete schon vergessen sind?

              Zitat von joeyyy Beitrag anzeigen
              ... Manchmal wäre ich auch gern Teil einer besonderen Volksgruppe mit ihren Besonderheiten. Bin ich nicht. Hannover – normaler und standardisierter geht’s wohl kaum mehr. Jeder, der damit etwas Besonderes darstellen will, macht sich lächerlich. Außer – halt! Das „Nichts Besonderes“ ist es, was die Niedersachsen ausmacht.
              Hannoveraner oder aus dem städtischen Dunstkreis: Schröder, v.d. Leyen, Wulf, Gabriel, Steinmeier, der Versicherungsverkäufer ...
              .

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              • Sternenstaub
                Alter Hase
                • 14.03.2012
                • 3580
                • Privat

                • Meine Reisen

                #27
                AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                schön, dass dieser Bericht weiter geht, er verspricht spannend zu werden. Ich hoffe, es geht dann auch zügig weiter.

                Werner, ich rede bestimmt politischen Morden nicht das Wort, aber wenn man darüber sinniert, sollte man nicht die mörderische Diktatur Francos vergessen, der auch gerade im Baskenland sehr wütete. Auch dort kommt nichts nicht von nichts. aber das würde vielleicht zu politisch, wenn auch interessant darüber zu diskutieren.

                joeyyy, freu mich, dass es nun weitergegangen ist, warte auf mehr.
                Two roads diverged in a wood, and I—
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                • joeyyy
                  Erfahren
                  • 10.01.2010
                  • 198
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                  • Meine Reisen

                  #28
                  AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                  Allen, die an einer Auseinandersetzung mit dem geistigen, religiösen und politischen Untergrund der europäischen Völker interessiert sind, empfehle ich entsprechende historische Lektüre. Das ist immer wieder spannend.

                  Ich persönlich lehne einen Werte-Relativismus ab, in dem zum Beispiel Tötungen im Namen der Freiheit mehr gerechtfertigt sein können als Tötungen aus sogenannten "niederen Beweggründen".

                  Dennoch waren und sind absichtliche und vorsätzliche Tötungen in der Welt an der Tagesordnung und um sie zu bewerten oder gar zu verhinden, muss man sie zunächst verstehen.

                  Und dazu kommt man um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht herum.

                  Und auch wenn - oder sogar: weil - ich Tötungen - selbst als ultima ratio - ablehne, kann ich differenziert denken und habe die Möglichkeit, das Rebellentum und den Widerstand der Basken zu befürworten. Und die Basken mit der ETA gleichzusetzen, wird ersteren in keinem Fall gerecht. Das Guernica-Trauma haben die Basken auf bewundernswerte Weise verarbeitet. Und die ursprünglichen Grundlagen eines arischen Nationalismus des Baskenlandes sind ebenfalls ad acta gelegt.

                  Für den baskischen Philosophen Fernando Savater ist die ETA "das letzte aktive Überbleibsel des Franco-Regimes: eine vermeintliche Befreiungsarmee, die nichts mehr zu befreien hat."

                  Also bitte ich darum, zwischen den Morden der ETA und dem Freiheitsdrang der Basken strikt zu unterscheiden.

                  Na ja, und den hannoverschen Klüngel als Besonderheit mag ich mir jetzt doch nicht anziehen. Den gibt es in jeder Stadt, in jedem Land. Man muss nur genau hinschauen. Und außerdem kommen Schröder und Steinmeier aus Lippe, v.d. Leyen aus Belgien, Wulff aus Osnabrück, Gabriel aus dem Harz und der "Drückerkönig" (Zitat ARD, 2011) aus Bremen.

                  Auch da bitte ich darum, zwischen Hannover und dem Rest der Welt zu unterscheiden

                  Gruß

                  Jörg.
                  Zuletzt geändert von joeyyy; 27.05.2016, 13:39.
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                    #29
                    AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                    Ich bedanke mich sehr für diesen Reisebericht, wobei mir auch die Fotos sehr gut gefallen!

                    Ich bin ebenfalls sehr auf die Fortsetzung gespannt.

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                    • joeyyy
                      Erfahren
                      • 10.01.2010
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                      #30
                      AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                      ---

                      9.10.2015 - Von Pamplona nach Logroño oder: El peregrino Jorge

                      ---



                      ---

                      Das Frühstück ist einfach und gut. Es ist etwas besonderes, mit Menschen am Tisch zu sitzen, die einander so fremd sind doch eine Idee teilen. Buon Camino!

                      Da ist ein Franzose, dem gekündigt wurde und der die freien drei Monate wandern will. Und da sind drei Spanier, die auch mit den Rädern fahren, welche allerdings in zweifelhaftem Zustand sind. Sie fahren einfach los.

                      Pamplona ist ein populärer Startort. Auch wenn alle hier zu sich finden oder sich besinnen wollen, irgendwie habe ich den Eindruck, dass sie das dann aber eben auch schnell wollen.

                      Na ja, um halb neun in der Früh muss ich draußen sein – es wird ein schöner Tag heute, sagen sie.

                      Kalt ist es, ich fahre bei vier Grad los und ziehe mir schnell alles an, was ich habe. Aber die Sonne kommt schnell raus, es geht erst mal bergauf und mir wird schnell warm.

                      Das ist jetzt spanische Provinz hier. Braunes Land, in allen möglichen braunen Schattierungen. Und sanfte Hügel, gepaart mit hin und wieder steilen Bergen und schroffen Abrissen.

                      Gegen Mittag ist es dann richtig schön. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel und heizt die Luft auf, die nach den kalten Tagen der letzten Woche endlich mal wieder an meinen nackten Armen und Beinen entlang streicht.

                      Nachdem ich auf den ersten 30 Kilometern schon über 500 Höhenmeter gesammelt habe, beschließe ich, mich ein wenig an die Region und die Pilgerer zu adaptieren und bergauf zu schieben. Ja, und langsam zu schieben und jede Steigung zu schieben. Die verkehrsarmen Sträßchen laden auch dazu ein.

                      Bergab allerdings geht’s dann mit bis zu 80 Sachen runter und mein Gepäck wird vom Rad getragen. Diesen Vorteil gegenüber meinen wandernden Genossinnen und Genossen gebe ich nicht ab.

                      Mein Etappenziel ist Logroño nach rund 100 Kilometern. Normalerweise ein lockeres Ziel, aber die Sonne und die Berge zehren ganz schön und so komme ich ziemlich fertig in der Hauptstadt der Weinregion Rioja an und schnappe mir das letzte freie Bett in der städtischen Pilgerherberge. Das kostet sieben Euro pro Nacht und es ist warm nachts und ich kann duschen und in einer Gemeinschaftsküche kochen. Das Zimmer teile ich mir mit rund 30 Koreanern, Italienern, Amerikanern, Franzosen, Slowaken und Engländern. Keine deutsche Stimme, was mich schon fast stutzig macht.

                      Um halb zehn schließt die Küche, um zehn geht das Licht im Haus aus und die Tür der Herberge wird verschlossen. Wer dann nicht drin ist, bleibt draußen – bis morgen früh um sechs. Ganz schön rigoros hier. Und um acht Uhr morgen früh müssen alle das Haus verlassen haben.

                      Wieder beschleicht mich das Gefühl, dass hier eine gewisse Eile um mich herum wirkt. Die mediterrane Lockerheit bleibt bei der Besinnung wohl außen vor. Und auch unterwegs in den ganzen kleinen Orten stehen die Pilger ungeduldig in den Schlangen an den Stempelstellen und lassen sich die Stempel in ihre Büchlein drücken. Für diese Herberge heute muss ich mir auch ein Credencial de Peregrino kaufen, da ich ansonsten kein Bett bekommen hätte.

                      Einfach nur pilgern, ohne Bescheinigung? Geht wohl nicht. Na egal, jetzt habe ich auch einen Stempel und bin offizieller Pilgerer. Und liege um die offizielle Pilgerzeit im Pilgerbett und beeile mich, schnell einzuschlafen. Bloß keine Ruhe, wer rastet, der rostet. Selbst im Schlaf.

                      ---

                      Mehr Bilder gibt es hier (klick)

                      ---

                      Fortsetzung folgt.

                      Gruß

                      Jörg.
                      www.gondermann.net
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                      • Sternenstaub
                        Alter Hase
                        • 14.03.2012
                        • 3580
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                        #31
                        AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                        Du beschreibst genau das, warum ich Pilgerwegen ungern folgen würde.

                        Aber spannend ist es allemale.
                        Two roads diverged in a wood, and I—
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                        • solidgold
                          Anfänger im Forum
                          • 25.06.2016
                          • 33
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                          • Meine Reisen

                          #32
                          AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                          Du hast ja richtig tolle Bilder gemacht und auch deine Beschreibungen sind gut zu lesen Ach, ich liebe es zu reisen und lese einfach gerne auch die Erfahrungen anderer. Super gemacht

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                          • joeyyy
                            Erfahren
                            • 10.01.2010
                            • 198
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #33
                            AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                            Oh, vielen Dank! Und ich liebe das Reisen und das Schreiben darüber. Weil ich beim Schreiben nochmal reise. Und wenn es Euch gefällt, freue ich mich besonders

                            Und es ist Ansporn, weiter zu schreiben, die Reise ist ja noch nicht zu Ende.

                            Gruß

                            Jörg.
                            www.gondermann.net
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                            • joeyyy
                              Erfahren
                              • 10.01.2010
                              • 198
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                              #34
                              AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

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                              10.10.2016 – von Logroño in Richtung Westen oder: Wie Speichen klingen müssen

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                              Um Punkt sechs Uhr geht das Licht an und als erstes sind die Koreaner aus den Betten. Die sind sofort hektisch und so komme ich gar nicht erst auf die Idee, noch weiter zu schlafen. Draußen ist es allerdings kalt und dunkel. Um sechs Uhr drei kommt die Herbergsmutter ins Zimmer, um zu schauen, ob auch alle wach sind. Ich habe keine Lust auf Warteschlangen vor dem Klo und bleibe noch liegen bis ich dann um halb sieben höflich und freundlich aufgefordert werde, nun auch endlich aufzustehen. Und mit mir die Italiener und die Franzosen. Wir blinzeln uns verstehend zu und werden langsam wach. Was für ein Gewusel im ganzen Haus. Ich nehme mir vor: Heute Abend schlafe ich wieder im Zelt.

                              Als ich mein Rad packe, merke ich, dass eine Speiche gerissen ist. Shit. Felge nicht verzogen, gutes Zeichen. Somit wird sich meine Weiterreise verzögern. Denn… Tataaa! Meine Ersatzspeichen liegen zuhause, ich wollte ja nicht durch die Sahara fahren. Somit stehe ich um Punkt acht Uhr vor einer verschlossenen Herberge und dann bis Punkt zehn Uhr vor einem verschlossenen Fahrradladen.

                              Der Laden heißt Retrocycle und im Laden begrüßt mich Sergio, ein modisch gekleideter Fahrradverkäufer. Ich schaue mich um und sehe… Fixies, Mountainbikes, Rennräder, Klamotten. Keine Reiseräder, keine Rohloffschaltungen. Das Geschäft sieht aus wie so ein hipper Laden in Berlin, der eigentlich ein Café ist, aber nur dann auch Hippster anzieht und zum Ökoveganfairtrademultikultilattemitherzchenimschaumkonsum bringt, wenn hippe Fixies von der Decke hängen, T-Shirts mit Fixies drauf in Glasvitrinen liegen und es nach Caramba riecht, was wahrscheinlich aus Duftdesignspendern von der Decke gesprüht wird.

                              Kurz: Ich frage erst mich, wie ich hier an eine Speiche für ein Rohloffhinterrad komme. Und dann höflich Sergio. Der sagt, dass die Werkstatt samstags geschlossen, er kein Mechaniker sei, sich in der Werkstatt nicht auskenne, aber dennoch mal schauen würde. Speichen seien ja schon signifikant und auch von einem Nichtmechaniker zu erkennen.

                              Ich ahne nichts Gutes, als Sergio auf Suche geht. Und doch – er kommt mit einer Sammlung silberner und schwarzer Speichen zurück und siehe da: Die passenden sind dabei! Aufatmen und Grinsen.

                              Allerdings muss ich selbst halt schauen, wie ich die Speiche nun einspeiche. Ich frage, ob ich die Werkstatt nutzen darf. ¡Claro que sí! Sergio und ich unterhalten uns angeregt, während ich mich an die Arbeit mache. Das Werkzeug ist aufgeräumt und ich muss zugeben, dass ich hier total gern arbeiten würde. Von wegen: Nur Deutsche können Ordnung. Sergio erzählt mir, dass der Haus-Mechaniker das ist, was man im Computerbereich „Nerd“ nennt. Und das merke ich allein an den Werkzeugmarken, an der Werkzeugauswahl und wie sauber hier alles ist (im Gegensatz zu den meisten Pizzaschachtel-Coladosen-Nerd-Laboren).

                              Sergios Chef organisiert die Eroica Hispania und so kommen wir ins Schwärmen und ich merke, dass der Laden hier alles andere als ein Hippster-Laden ist. Ich frage Sergio, ob er gern hier ist, in Rioja. Seine Frau kommt aus Andalusien, die beiden überlegten sich vor einiger Zeit, wo sie den nun leben wollten. Andalusien sei Sergio aber zu unruhig, zu hektisch. Er kommt hier aus Rioja, aus der Nähe von Logroño. Da hake ich nach: Andalusien zu hektisch zum Leben? Ja, meint mein Helfer in der Not. In Andalusien gibt es Touristen, Strände, Autobahnen, die Immobilienmakler haben alles im Griff. In Rioja gibt es Wein, Wanderer und sauberere Luft. Und das lässt das Leben ruhiger verlaufen. Da ist wohl was dran.

                              Sergio schaut mir zu und zeigt mir das Tensiometer zum Messen der Speichenspannung. Ich lehne dankend ab, hab sowas noch nie benutzt. Ich kontrolliere per Auge und per Ohr. Einen Seiten- oder Höhenschlag kann ich nicht erkennen und als ich das Hinterrad rollen lasse und einen Schraubenzieher an die Speichen halte, klingen alle gleich. Bis auf eine. Die ziehe ich so lange fest, bis alle gleich klingen. ¡Eso es!

                              Sergio ist fasziniert, wir quatschen noch ein wenig, ich kaufe mir zuletzt ein Eroica-Käppi, zahle, lege noch was in die Kaffeekasse und verabschiede mich mit herzlichstem Dank.

                              Wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja nächstes Jahr zur Eroica wieder.

                              Das Wetter ist genial, die Landschaft wird hügeliger.

                              Der Pilgerpfad wird auch für Radler rauher, führt über Feld- und Schotterwege durch die Weinberge. Es ist Herbst und die überreifen Trauben versprühen einen süßlichen Geruch. Ich probiere – sie schmecken nicht so gut wie die in Deutschland oder die in Frankreich oder der Schweiz. Aber sie liefern Energie und sind gesund.

                              An manchen Abschnitten des Jakobswegs muss ich absteigen und schieben, ja sogar hin und wieder das Rad über verblockte Abschnitte tragen.

                              Die Wanderinnen und Wanderer sind zum allergrößten Teil freundlich – ich fahre allerdings auch sehr vorsichtig an ihnen vorbei und mache mich durch rechtzeitiges Klingeln bemerkbar. Manchmal ernte ich Bewunderung, manchmal Kopfschütteln, meistens ein Lächeln. Wenn ich merke, dass jemand erschöpft inne hält weil die Last auf dem Rücken drückt, frage ich, ob ich den Rucksack auf meinen Gepäckträger stellen soll und wir ein Stück Weg gemeinsam schieben. Das kommt gut an, wird aber durchweg abgelehnt. Pilgerer-Ehre? Von mir aus.

                              Später dann trennen sich die Wege der Wander- und der Radler-Pilgerer wieder und ich fahre über autofreie gewundene Bergsträßchen, die mir mal wieder klar machen, warum es so wundervoll ist, mit dem Rad zu reisen.

                              Zum Abend hin überlege ich kurz, ob ich zur nächsten Herberge fahre oder ob ich zelte und denke an die letzte Nacht. Ich suche mir ein schönes Plätzchen für mein Zelt auf ungefähr 1.000 Metern Höhe abseits der Straße an einem Feldweg und genieße die Ruhe und die frische Luft.

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                              Fortsetzung folgt.

                              Gruß

                              Jörg.
                              www.gondermann.net
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                              • blauloke

                                Lebt im Forum
                                • 22.08.2008
                                • 8842
                                • Privat

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                                #35
                                AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                                Es ist immer interessant einen neuen Tag deiner Fahrt zu lesen. Du schilderst deine Erlebnisse sehr anschaulich.

                                [QUOTE=joeyyy;1514820 Weil ich beim Schreiben nochmal reise. [/QUOTE]
                                Das geht mir auch so.
                                Du kannst reisen so weit du willst, dich selber nimmst du immer mit.

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                                • joeyyy
                                  Erfahren
                                  • 10.01.2010
                                  • 198
                                  • Privat

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                                  #36
                                  AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

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                                  11./12.10.2015 – Von irgendwo in den Bergen in ein Kloster und dann weiter nach León oder: Das Nichts kann es nicht geben

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                                  Ach, es ist Samstagnacht und in irgendeinem kleinen Dorf in der Nähe spielt die Kapelle so laut sie kann. Und sie kann laut. Ich dachte, es sei beschaulich hier. Das hatte ich jetzt doch schon öfter: Einen idyllischen, netten Platz und dann, Samstagabend, geht die Post ab. Das heftigste war mal ein Lager an Elbe, als sich die nahe Scheune als ein Rockertreff herausstellte und die Jungs mit Harleys, Kutten und allem Tamtam richtig Party machten. Da konnten dann auch die Ohropax höchstens noch das Schlimmste lindern. In Österreich war das auch so, als ich am Inn zeltete und auf der anderen Flussseite ein Mini-Oktoberfest mit Rumtata-Musik gefeiert wurde. Das war dann nicht nur von der Lautstärke her grausam. Na ja, jetzt höre ich Discomusik, wärme mir meine kleinen Schlafhelferlein aus Wachs in der Hand vor und versiegele dann damit meine Gehörgänge.

                                  Gegen zwei Uhr morgens wache ich auf, nehme die Stöpsel raus, es ist leise. Ich schlafe weiter. Gegen vier Uhr morgens ist es wieder laut, es regnet mit dicken Tropfen. Ich drehe die Stöpsel wieder zurecht und stecke sie in die Ohren. Um sechs ist es wieder leise, um acht fährt ein Trecker an meinem Zelt vorbei. Hey, Campesino, es ist Sonntag! Sonntag ist Ruhetag und du bist doch garantiert katholisch erzogen! Hast du was vergessen? Fünf Rosenkränze! Meine imaginäre Ansprache an den armen Kerl beruhigt mich ein wenig und ich schlafe nochmal ein. Es ist kalt hier oben, da kuschel ich mich gerne in meinen Schlafsack.

                                  Gegen neun stehe ich dann auf, koche mir einen Tee, packe zusammen und rolle locker nach Burgos.

                                  Burgos ist wie all die anderen spanischen Großstädte, die ich hier im Norden durchfuhr: Außen unattraktiv mit Hochhäusern, innen eng mit vielen Bars und Kirchen. Die Kathedrale hier ist schon gewaltig. Ich kriege sie mit meinem 50 Millimeter Objektiv gar nicht komplett aufs Bild.

                                  Na, wegen des Deja-vú-Effekts fahre ich dann auch bald wieder raus aus der Stadt, es beginnt wieder zu regnen. Immer nur mal kurz und dann längere Zeit nicht. Mein Weg ist nun auch der Weg der Wanderer. Es sind Schotterwege, die meist ganz passabel befahrbar sind. Manchmal aber auch nicht und dann gern verblockt. Das ist mit einem bepackten Reiserad bergab und bei Regen schon heikel. Und immer wieder muss ich an den Wanderern vorbei. Die sind aber wie in Trance unter ihren Kapuzen und Schirmen. Auf dem Weg erinnern sie mich an eine Ameisenstraße. Alle hintereinander weg, gleiches Tempo, gleiche Richtung. Am Rand spielen sich dann hin und wieder kleinere und größere Dramen ab – meist körperlicher Art. Manchmal auch anhand der Heftigkeit der Diskussion erkennbar. Wenn man den Camino gemeinsam gehen will, sollte man sich mögen. Sehr mögen. Und tolerant sein.

                                  Nach fünf bis sechs Regenschauern, rund 115 Kilometern und sechs Stunden auf dem Sattel erreiche ich ein altes Kloster, das auch als Pilgerherberge dient. Hier bekomme ich ein Bett mit Dusche und herzlichem Beistand für fünf Euro.

                                  Am nächsten Morgen regnet es. Es regnet den ganzen Morgen.

                                  Ich setze mich in den Salon des Klosters und lese und schreibe und denke wieder über Nichts nach. Über das „Nichts“. Das kürzeste Paradoxon der Welt: Nichts. Wenn ein Substantiv einen Inhalt, eine Bedeutung, einen realen Gegenpart haben muss, dann darf es das Substantiv „Nichts“ nicht geben. Gibt es aber. Und es bezeichnet etwas, was es nicht bezeichnen kann.

                                  Ich habe mich als Kind schon immer gefragt, was eigentlich vor meiner Geburt war. Wo ich da war. Der Tod hat mich nie so interessiert wie meine Nicht-Existenz vor meiner Geburt. Wie konnte es kommen, dass ich aus dem Nichts entstanden bin? Lassen wir mal die Biologie beiseite. Nichts kann aus dem Nichts entstehen und nichts kann einfach so ins Nichts verschwinden – wie soll das gehen?

                                  Und überhaupt: meine Sinne befeuern mich ständig mit Eindrücken. Mein Gehirn beschäftigt sich selbst im Schlaf permanent mit Wahrgenommenem. Ich kann nicht nicht wahrnehmen oder nicht denken. Da frage ich mich auch: kann es etwas geben, wenn es nichts und niemanden gäbe, der es wahrnehmen könnte? Ich meine jetzt nicht so etwas wie Magnetismus, der mit den richtigen Instrumenten nachgewiesen werden kann. Nein, ich meine: gäbe es zum Beispiel das Universum ohne irgend eine Form von Bewusstsein innerhalb oder außerhalb von ihm?

                                  All diese Fragen und weitere ähnliche werden von uns mit unserer beschränkten Wahrnehmung und Vorstellungskraft diskutiert. Am Ende muss es aber eine Antwort auf sie geben, sonst gäbe es uns nicht. Selbst wenn wir uns selbst auf einen einzigen Gedanken reduzieren (cogito ergo sum). Wer diese Fragen beantwortet, hat entweder Gott oder das Göttliche gefunden oder ihn oder es widerlegt.

                                  Womit ich wieder beim Camino bin. Beziehungsweise beim Regen.

                                  Gegen Mittag ziehe ich meine Regenklamotten an und fahre einfach los. Donnerstag will ich in Santiago sein.

                                  Im Regen ist die Landschaft nicht so spektakulär und so kann ich wirklich ein wenig rum sinnen und versuchen, eine für mich lebenspraktische wichtige Entscheidung zu treffen.

                                  Will ich weiterhin Fleisch essen oder will ich darauf verzichten. Die Entscheidung muss ja nicht schwarz-weiß sein, es gibt ja unterschiedlichste Graduierungen. Ich muss mich fragen, was mir wichtig ist. Der Trieb oder die Vernunft. Der Trieb ist in unserem Überlebensprogramm verwurzelt, zu Teilen kulturell eingepflanzt. Die Vernunft sagt: es ist gesünder, auf Fleisch zu verzichten. Die Umwelt kann unseren Kindern nur noch einigermaßen heile übergeben werden, wenn die Menschheit jetzt sofort auf den Fleischkonsum mit seinen Folgen verzichten würde. Und schließlich wissen wir nicht, was wir den Tieren – insbesondere den Schweinen – antun, wenn wir sie so halten wie wir es tun. Es gibt durchaus prominente Stimmen und sehr gute Argumente für einen Ethos gegenüber Tieren, der uns alle täglich als Verbrecher überführen würde. Mir selbst würde der Verzicht auf den Luxus „Fleisch“ und die Demut gegenüber der Natur gut zu Gesicht stehen. Und meiner Gesundheit wäre es ebenfalls zuträglich.

                                  Und was ist mit Fisch? Was mit Milch, Quark, Käse und Co.?

                                  Himmel! Warum ist es so schwer, eine klare Entscheidung zu treffen? Warum ist es so schwer, konsequent zu sein? Warum gehen andere Menschen so unbeschwert mit ihren Entscheidungen um? Was ist es, das es mir so schwer macht? Warum muss für mich alles im Leben immer so konsistent sein? Himmel!

                                  A propos: Am Abend klart der Himmel parallel zu meinen Gedanken auf und ich erreiche León. Ich finde gleich in der ersten Herberge ein Bett und zahle zehn Euro dafür. Die letzten Routine-Tätigkeiten des Tages verdrängen so langsam meine Gedanken, meine Ideen, meine Fragen, meine Zweifel.

                                  Als ich im Bett liege, denke ich nochmal über das Nachdenken nach. Ist es nicht fantastisch, dass wir das können? Ja, es ist eine Gratwanderung. Das Denken über alles Metaphysische zu genießen, ohne den Kontakt zum Hier und Jetzt zu verlieren. Die Art und Weise des Denkens über das Abstrakte zu kultivieren, um sie beim Diskutieren über das Praktische anzuwenden. Aber ob ich jetzt Vegetarier werden will oder gar Veganer oder nicht, darüber muss ich noch ein wenig nachdenken.

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                                  Fortsetzung folgt.

                                  Gruß

                                  Jörg.
                                  www.gondermann.net
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                                  • joeyyy
                                    Erfahren
                                    • 10.01.2010
                                    • 198
                                    • Privat

                                    • Meine Reisen

                                    #37
                                    AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                                    Und die letzten Etappen in einem Rutsch:

                                    ---

                                    13./14./15.10.2015 - Ankunft in Santiago, die letzten Tage in Madrid und die Frage nach der Suche

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                                    Heute spielt das Wetter mit. Sonne und Wolken wechseln sich ab. Bergauf und bergab auch. Gegen 19 Uhr komme ich in Ponferrada an und miete mich in ein "teures" Hostel ein: 12 Euro die Nacht. Ich erlebe, worüber viele Peregrinos klagen: Lärm und Gestank. Ich schlafe mit einem laut schnarchenden Spanier und zwei Argentiniern, die ihre Schuhe und Strümpfe irgendwo unters Bett geschoben haben, auf dem Zimmer. Wegen des Straßenlärms hat einer von denen die Fenster geschlossen. Zum Glück liege ich am Fenster und öffne es. Meine Wachsstöpsel habe ich wegen des Schnarchens sowieso in den Ohren, so dass ich den Verkehrslärm nicht höre. Ich schlafe mit der Nase am Fenster ein.

                                    Erst um halb neun wache ich wieder auf, um zehn sitze ich im Sattel. Es ist kalt und neblig, die ersten zwanzig Kilometer fahre ich in voller Montur. Das Thermometer zeigt 5 Grad, die leichte Regenjacke und auch die Regenhose funktionieren sehr gut als Kälteschutz.

                                    Um elf gehts dann in die Berge, es klart auf, die Sonne strahlt auf mich und ich strahle zurück. Am Ende des Tages habe ich 115 Kilometer geschafft und dabei knapp 2.000 Höhenmeter gesammelt. Der höchste Punkt war auf 1.330 Metern, mit Gepäck ist das schon anstrengend. Aber die Abfahrten sind immer wieder ein Genuss. Mit Gepäck liegt das Fahrrad wie ein Motorrad in den Kurven, meine Reifen habe ich rund und sauber gefahren.

                                    Am Abend erreiche ich ein abgelegenes kleines öffentliches Hostal in den galizischen Bergen, Bett sechs Euro. Ich treffe Teresa, eine Spanierin aus Zaragoza, mit der ich in einem benachbarten Restaurant zu Abend esse. Sie ist ebenfalls allein unterwegs, wandert. Wir haben eine sehr ähnliche Einstellung zum Reisen: Unabhängig, spontan, meistens allein. Ich habe das Gefühl, zu ahnen, warum der Jakobsweg auch als "Affärenweg" bezeichnet wird. Tagelang allein unterwegs, die Sehnsucht nach Zuwendung durch einen anderen Menschen, möglichst gleichaltrig aber andersgeschlechtlich, wächst - da verwundert es nicht, wenn die Kontemplation vom Wandern auch auf andere körperliche Tätigkeiten ausgedehnt wird. Bei mir ist das jetzt nicht der Fall, wenngleich ich das nicht ausgeschlossen hätte.

                                    In der Schlafstube des Hostals beziehe ich dann mein Bett. Unter mir schläft eine Holländerin, die schnarcht. Ohrenstöpsel helfen nicht, da das Bett vibriert. Auch das hatte ich bisher noch nicht und auch davon habe ich schon ein paar mal gehört. Ich vertraue darauf, dass sie sich irgendwann umdreht und ich irgendwann so müde bin, dass ich einschlafe. Irgendwie gehts dann auch...

                                    Auf den ersten 25 Kilometern des letzten Fahrradtages vor Santiago sammel ich schon wieder rund 500 Höhenmeter. Anstrengend und in abgelegener, wunderschöner Landschaft. Nun sind es keine hundert Kilometer mehr bis Santiago. Ein Erfolgsgefühl will irgendwie nicht aufkommen. Ich habe mich auch mehr mit René Descartes, John Locke und David Hume befasst als mit Jesus Christus oder dem heiligen Jakob. Dafür habe ich das Gefühl leerer Beine. Die letzten beiden Tage waren hart und heute wird es auch nochmal anstrengend.

                                    Ich frage mich, was ich eigentlich von dieser Reise erwarte. Ist das für mich - wie für viele andere Wanderer - eine Pilgerreise? Also eine Reise in die Fremde aus religiösen Gründen? Was ist auf so einer Reise zu suchen? Was suchen und finden die Tausenden, die ich überholt habe? Gott? Sich selbst? Spiritus - im Sinne von Geist?

                                    Religionen sind alle menschengemacht, künstlich, Teile der jeweiligen Kulturen. Im Gegensatz zur Natur. Das heißt: Die Bilder, die sich Menschen auf der ganzen Welt von ihren jeweiligen Gottheiten machen, sind kulturell. Nicht natürlich. Es sei denn, sie sehen das Göttliche in allem Natürlichen.

                                    Und auf einer Pilgerreise soll genau dieses Religiöse, diese Hinwendung zur jeweiligen Gottheit vertieft werden. Nun, mit den großen Religionen dieser Welt kann ich selbst nicht viel anfangen. Sie sind menschengedacht und werden von Menschen gelebt. Meist nicht so wie gedacht. In wichtigen Dingen inkonsistent. Sollen setzt Können voraus. Nur was ich kann, kann ich erfüllen und damit sollen. Und häufig ist das, was die Menschen gemäß ihrer Religion sollen, durch ihr Können limitiert.

                                    Das bin ich auch. Limitiert. Aber ich setze mir auch keine Regeln, die ich nicht einhalten kann. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. Kann ich nicht. Wenn sie attraktiv ist und meine Hormone antriggert, begehre ich sie. Punkt. Also kann ich schon mal das zehnte Gebot nicht einhalten. Vielleicht ändert sich das mit dem Alter. Das Sabbatgebot kann ich auch nicht einhalten. Will ich auch nicht. Wann soll ich denn meine Bude aufräumen und meine Fahrräder reparieren?

                                    Wäre ich ein echter Christ, müsste ich mir Ausreden einfallen lassen. Oder Buße tun oder irgendwelche Ablässe organisieren. Und damit beichten oder pilgern oder beides.

                                    Natürlich ist auch für mich die Frage nach dem Ursprung aller Existenz nicht geklärt. Nicht annähernd. Und auch die Frage nach dem großen Warum und dem finalen Wohin nicht. Aber ich kann damit leben. Ich muss mich deshalb nicht einer Religion anschließen und mich ihrer Doktrin unterwerfen. Die Natur nährt mich. Die Natur schützt mich. Meine Natur ist nicht negierbar. Ich bin Teil der Natur. Das steht fest, das ist Wissen, nicht Glauben. Das ist exististenziell, nicht religiös. Daher ist jede meiner Reisen eine Reise in die und mit der Natur. Eine Hinwendung zur Natur. Daher wäre eine Suche nach dem Sinn in mir selbst sinnlos.

                                    Damit sind vielleicht auch alle meine Reisen Pilgerreisen. Vielleicht ist mein ganzes Leben eine Pilgerreise. Eine Hinwendung zur Natur. Zu meiner und zur mich umgebenden.

                                    Wer weiß.

                                    In einem Pilgercafé trinke ich den zweiten Kaffee des Tages.

                                    Er tut gut, die heiße Tasse wärmt die Hände, der Zucker wird mir für die nächsten Kilo- und Höhenmeter Energie geben.

                                    Ein Vater sitzt mit seinem Sohn an einem Tisch, beide jeweils auf die Mattscheibe ihrer Telefone fixiert. Während ich meinen Kaffee trinke, schauen die beiden nicht ein einziges mal zueinander auf, reden nicht ein einziges Wort miteinander. Überhaupt sehe ich viele Wanderer mit Stöpseln in den Ohren und/oder diesem demütigen Blick nach unten auf den Bildschirm, der ihnen ein bläulich kaltes Licht entgegenstrahlt. Die Welt ist enger geworden mit den Apps und Möglichkeiten, die die neuen Kommunikations- und Informationsdienste bieten. Alles ist einen Fingertip oder eine Wischgeste von mir entfernt. Familie, Freunde, das nächste Hostal, der nächste Urlaub, das aktuelle Projekt im Büro. Die Wetterprognose erfordert nicht mehr einen geschulten Blick nach oben sondern einen kurzen nach unten. Aufs Telefon.

                                    In Zentralamerika hatte ich mein iPad dabei und in den Hostals und Herbergen den Kontakt zu meiner Heimat hergestellt. Bei mir ging das zulasten meiner Offenheit und Neugier gegenüber dem aktuellen Hier und Jetzt. Wenn ich Impulse aus meiner Zuhausewelt bekomme, beschäftigen sie mich. Sie belegen ein Kontingent meiner Gedanken. Was ich dann für das Hier und Jetzt, für die Neugier auf die Welt um mich herum nicht zur Verfügung habe. Oder für Langeweile.

                                    Langeweile ist extrem wichtig. Sie führt mich zum nächsten Gedanken, zur Frage "Und jetzt?".

                                    Da ist die spannende Wolkenformation über mir, die hier so besonders wirkt. Da sind die Schweißtropfen auf meinen Armen, die in der Sonne so lustig glitzern. Da ist der Italiener am Frühstückstisch, den ich fragen könnte, wo er heute noch hin will. Da ist die Gedankenkette zum "Nichts", die immer noch um das Vakuum herumkreist und nun weitergedacht werden will. Ob ein elektromagnetisches Feld etwas ist oder nicht. Da ist die Lust auf den nächsten Kaffee im nächsten Ort, der ich fröne.

                                    All das funktioniert wohl auch mit dem Smartphone in der Tasche. Aber das nächste Tüdelüt ist im Schnitt nur zehn Sekunden entfernt und will gehört werden. Und schon bin ich gedanklich wieder in der Zuhausewelt. Die ist jetzt überall, nicht mehr örtlich gebunden. Wenn das so ist, kann ich dann überhaupt noch wegfahren? Noch reisen?

                                    Die letzten Kilometer nach Santiago haben es nochmal in sich. 105 Kilometer in sieben Stunden stehen auf dem Tacho. Ich bin jetzt auch echt fertig. Gleich am Ortseingang finde ich ein Hostal für zwölf Euro und buche mich dort ein. Nach dem Duschen wandere ich den letzten Kilometer zur Kathedrale zu Fuß. In der Riesenkirche, die momentan eingerüstet ist, findet ein Gottesdienst für die Pilger statt. Ich fühle mich begrüßt und überwältigt von dem Prunk, der hier gezeigt wird. Wie in Sevilla, denke ich an die Herkunft des Goldes und an das Leid, das dort verursacht wurde. Freuen und erfreuen kann ich mich daran nicht.

                                    Santiago de Compostela ist eine schöne alte Stadt mit vielen engen Gassen und Sträßchen sowie handwerklich bemerkenswert gut gemachten Häusern und Kirchen. Pamplona, Burgos, León, Santiago - irgendwie kann ich die Orte aber auch nicht mehr auseinander halten. Irgendwie ähneln sie sich doch sehr. Was war jetzt nochmal wo? Ich weiß es nicht.

                                    Am nächsten Morgen setze ich mich in den Bus nach Madrid, wo ich meinen Sohn besuche, der dort studiert. Madrid ist eine interessante Stadt, die aber keinen wirklichen Reiz auf mich hat. Nicht vergleichbar mit Barcelona, mit den alten Städten am Camino, mit Sevilla oder Córdoba oder Granada. Madrid ist Königsstadt, ist Verwaltungsstadt, ist Hauptstadt. Lennart zeigt mir die Kneipen, die Parks, die Museen. Den Königspalast schaue ich mir an, die Sammlung von Pferderüstungen ist beeindruckend.

                                    Nach zwei Tagen Madrid sitze ich wieder im Flieger nach Deutschland. Ich denke zurück.

                                    Wirklich bewegt haben mich auf dieser Reise die Landschaften, das Wetter, die Gastfreundschaft der Spanier, die Infrastruktur des Camino mit seinen Wegweisern und Unterkünften, mein Fahrrad und meine eigene Leistungs- und Leidensfähigkeit. Wobei ich "Leid" ja gar nicht wirklich empfand. Ich freue mich, gesund und leer angekommen zu sein.

                                    "Mache" ich den Camino nochmal? Wenn, dann als Wanderer. Da wird das Gefühl für die Landschaft wohl ein anderes sein. Und nicht nur für die Landschaft. Da wird es unterwegs wohl zu mehr Begegnungen, zu mehr Austausch kommen. Und vielleicht auch zu mehr Leid in Form von Blasen, Schmerzen, Ausgelaugtsein und so weiter. Auf jeden Fall würde ich den Camino allein machen.

                                    Aber warum den Camino, warum in Spanien? Das Leinebergland und die Lüneburger Heide bieten auch ausreichend Möglichkeiten und Raum. Kontemplation und Einkehr in Natur und sich selbst ist an kein Land gebunden, an keine Spiritualität, an kein Vorbild.

                                    ---

                                    "Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst sucht!"

                                    (Goethe, zitiert von Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse")

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                                    Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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                                    Ende.

                                    Gruß

                                    Jörg.
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                                    • Abt
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                                      • 26.04.2010
                                      • 5726
                                      • Unternehmen

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                                      #38
                                      AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                                      Ja, da danke ich erst einmal für den Bericht und deine Gedankenwelt, in die du mich hier hast einlesen lassen.

                                      Meine Frage ist,- Woran erkenne ich in Spanien echte Gastfreundschaft?
                                      Und noch 'ne Frage zur Guardia Zivil,- welche Rolle spielt diese nach deiner Ansicht heute in der Öffentlichkeit.
                                      Also welche Aufgaben erfüllt sie?
                                      Zuletzt geändert von Abt; 28.10.2016, 13:16.

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                                      • joeyyy
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                                        • 10.01.2010
                                        • 198
                                        • Privat

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                                        #39
                                        AW: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - Herbstreise von Aachen nach Santiago de Compos

                                        Zitat von Abt Beitrag anzeigen
                                        Meine Frage ist,- Woran erkenne ich in Spanien echte Gastfreundschaft?
                                        Und noch 'ne Frage zur Guardia Zivil,- welche Rolle spielt diese nach deiner Ansicht heute in der Öffentlichkeit.
                                        Also welche Aufgaben erfüllt sie?

                                        1) woran du das erkennst, weiß ich nicht. Ich fühlte mich in den allermeisten fällen herzlich willkommen. Das liegt vielleicht aber auch an mir. Oder vielleicht auch einfach am Pilgerweg.

                                        2) ich hatte mit denen nie etwas zu tun. Das ist aber auch eine Frage, die du eher einem Korrespondenten der großen Tageszeitungen stellen müsstest. Ich selbst kann und will dazu nicht viel sagen.

                                        Gruß, Jörg.
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