Tourentyp | |
Lat | |
Lon | |
Mitreisende | |
Land: Kirgistan
Reisezeit: August/September 2015
Dauer: 5 Wochen, davon 27 Trekking-Tage
Dieser Bericht schließt direkt an den vorangehenden Tadschikistan-Bericht an. Für Kirgistan hatten wir folgende Route angedacht, für die eine Dauer von ca. 4 Wochen kalkulierten: Ak-Suu – unbenannter Pass – Enilchek – Kayingdi River – At-Djaloo (Pass 2) – Enilckek Glacier – Maj Bulak Glacier (Pass 3) – Musketova Glacier – Musketova Pass (Pass 4) – Semenova Glacier – Sari-Jaz River – Echkilitash
Aufgrund der Länge der Tour gaben wir bei unserem Freund Christian, der sich oft in Kirgistan aufhält und ein paar Wochen vor unserer Ankunft in der Nähe unseres Reisegebiets unterwegs sein wollte, ein Nahrungsdepot in Auftrag, das er in Enilchek hinterlegen sollte. Somit konnten wir mit Essen für 10 Tage im Rucksack starten und planten, Verpflegung für weitere 18 Tage in Enilchek aufzulesen.
Diese Reise war eine der großartigsten, die ich je erlebt habe. Wunderbare Landschaften, herausfordernde Schlüsselstellen und 27 Tage, in denen wir keinen anderen Trekking-Reisenden begegnet sind.
Tag 19, auf einem namenlosen Gipfel in der Nähe des Semenova-Gletschers.
Zelt im Schneesturm auf dem Gletscher.
Yaks an einem Seitenarm des Sari-Jaz Flusses.
Sofia bei Wind und leichtem Schneefall auf einem Gletscher.
Wie schon beim letzten Mal übergebe ich das Wort jetzt an Sofia, die sich großzügigerweise erneut bereit erklärt hat, mir die Schreibarbeit abzunehmen. Nur die Fotos, Bildunterschriften und entsprechend gekennzeichnete Kommentare sind von mir.
15. – 21. August: Von Tadschikistan über die Grenze bis nach Karakol
Als Einstieg möchte ich gedanklich direkt an den zuvor gehenden Reisebericht aus Tadschikistan anschließen: „… und quer durch das Nirwana der Steinwüste verlassen wir nach 35 Tagen Tadschikistan.“. Als wir über den Grenzpass fahren, überraschen uns bereits nach ein paar Kilometern die spürbaren Veränderungen des neuen Landes: Bald zeigen sich satte, saftige Felder; das Gras so grün, wie wir es sei Wochen nicht gesehen haben. Auch die Rinder, die auf den Weideflächen grasen, sehen fetter und gesünder aus. Außerdem sind überall Pferde – wunderschöne, elegante Tiere mit großen Augen und glänzendem Fell. Die Straße ist in einem viel besseren Zustand und sogar an der Beschilderung zeigt sich die bessere Infrastruktur.
Spät abends, eigentlich schon nachts, kommen wir in Osh an und unser Fahrer organisiert und freundlicherweise eine provisorische Übernachtungsgelegenheit bei seiner Schwiegertochter. Am nächsten Morgen fährt er uns zur Haltestelle, von wo die Sammeltaxen (‚Marshrutka‘) nach Bishkek abfahren. Doch bevor wir weiterziehen, wollen wir in Osh unsere restlichen tadschikischen Somoni in kirgisische Som umwechseln – da hat uns aber schon ein Fahrer gesehen und winkt uns in sein Auto. Wir machen ihm klar, dass wir in der Landeswährung nicht zahlen können und unbedingt noch eine Wechselstube brauchen, doch er vertröstet uns auf Bishkek und platziert uns in das Gefährt. Ihm in diesem Belangen zu vertrauen, wird sich bald als großer Fehler herausstellen. Als wir nämlich nach etwa 10 Stunden halbwegs gemütlicher und überraschend problemloser Fahrt spät abends in Bishkek ankommen, haben zwar noch einige Wechselstuben geöffnet, jedoch nimmt keine Somoni an. Außerdem spricht unser Fahrer kein Wort Englisch und will auch nicht verhandeln; er ruft einen Bekannten an, der dann von uns etwa den dreifachen Fahrtpreis verlangt. Es vergehen bestimmt 30 Minuten, bis wir, bzw. Gabriel und er sich einig sind und wir schließlich etwas genervt inklusive der Fahrt zu unserem Hotel pro Person 150 Somoni (20 Euro) zahlen. Von dort aus machen wir uns müde und hungrig noch auf die Suche nach einem Bankomaten, um die Übernachtung zu bezahlen und verschieben unser Somoni-Som-Dilemma erstmal bis auf weiteres.
Dass es in dem Hotel ein weiches, großes Bett, eine richtige warme Dusche und sogar Internet (am Gang) gibt, vertröstet uns doch soweit, dass wir den Abend noch richtig genießen können, in dem Wissen, wir können am nächsten Tag ausschlafen. Falsch gedacht! Früh um 7 Uhr weckt uns ein ungeduldiges Klopfen. Vor der Hotelzimmertüre steht … (Trommelwirbel) … Christian! Er ist auf dem Heimweg aus der Mongolei nach Wien auf kurzem Zwischenstopp in Bishkek und die Freude über das unerwartete Wiedersehen ist riesig. Es tut richtig gut, das Gesicht eines engen Freundes in einem fernen Land auf langer Reise zu sehen. Der Tag vergeht wie im Flug, so viele Geschichten sind zu erzählen.
Meine Reise-Geschichte mit Christian geht zurück bis 2009, Trekking in Kanada und USA, mein erster Reisebericht hier im Forum. Schön, dass wir uns jetzt, 6 Jahre später, hier in Bishkek treffen konnten.
Mithilfe von Christians Russischkenntnissen schaffen wir es auch schließlich, unsere restlichen Somoni auf der Straße umzuwechseln (zu unserem großen Bedauern zu einem sehr schlechten Kurs doch ohne weitere Alternativen). Leider geht Christians Heimflug abends und so ziehen wir am nächsten Morgen zu zweit weiter. Mit der Marshrutka fahren wir etwa 6 Stunden nach Karakol, der ‚Hauptstadt‘ im Tien Shan, von wo wir zu der geplanten großen Tour aufbrechen wollen. Hier schlafen wir bei Christians gutem Freund Alex, der uns auch im ganzen nächsten Monat immer wieder sehr unterstützt und weiterhilft. Alex ist US-Amerikaner, der seit über einem Jahr in Karakol lebt und dort für die Organisation Peace Corps bei der lokalen Trekking- und Tourismusagentur EcoTrek arbeitet. Er und Azad, der Manager dieser Agentur, sind uns in unserer gesamten Kirgistan-Zeit eine große Hilfe und Unterstützung gewesen, vor allem in Sachen Transport-Organisation und Übersetzung – dafür sind wir nach wie vor sehr dankbar.
Am Abend des 18. August betreten wir ein kleines Restaurant in Karakol. Wen sehe ich da drüben sitzen? Das Gesicht kenne ich doch! Tatsächlich, es ist Manuel, ein junger oberösterreichischer Kletterer, den ich auf meiner ersten großen Outdoor-Trekkingreise vor etwa einem Jahr in Leh, Ladakh in einem kleinen Restaurant kennengelernt hatte. In Österreich haben wir uns nie getroffen, aber ich habe ihn sofort erkannt. Er ist mit seinem Kumpel David zum Bergsteigen nach Kirgistan gekommen. Nachdem Manuels Rucksack jedoch nie ankam, mussten sie, anstatt hohe Berge und Gletscher zu besteigen, auf kürzere Trekkingtouren umdisponieren. Und wie es der Zufall so will, sind die beiden Männer von unserer Touridee sehr angetan; so laden wir sie kurzerhand ein, uns für die erste Etappe (8-10 Tage nach Enilchek) zu begleiten. Am nächsten Tag wird vorbereitet und eingekauft: (auf mein Drängen) sogar ein paar luxuriöse Essensgüter wie getrockneten Fisch, getrocknete Pilze, Knoblauch und allerlei andere Gewürze plus ausnahmsweise sogar eine kleine Flasche Wodka für besondere Anlässe. Danke dafür, lieber Gabriel – ich weiß, das hat sich auch für dich gelohnt.
Anmerkung Libertist: Die Pilze waren lecker, der Wodka praktisch. Die mit salziger Fischhaut überzogenen Gräten, also das, was du „getrockneten Fisch“ nennst, wären nicht nötig gewesen.
Abends verabreden wir uns im Hostel der Oberösterreicher zum gemeinsamen Kochen und Entspannen am Lagerfeuer. Für den darauffolgenden Tag, 20. August, wird der Aufbruch zu dritt geplant; Manuel bleibt aufgrund seiner vermissten Ausrüstung in Karakol und David wird uns mit einem gemieteten und durchwegs etwas maroden Zelt bis nach Enilchek begleiten. Er war in den letzten Jahren auf Bergsteig-Reisen in Südamerika, Nepal und viel in Europa, besonders im heimischen Alpenraum unterwegs. Zu seinen Spezialgebieten gehören Gletscher und Schnee – er ist nicht nur begeisterter Schitourengeher, sondern auch (Eis-) Kletterer und hat Erfahrung mit Spaltenbergungen. Für die erste schwierige Passpassage beruhigt es mich sehr, noch eine erfahrene Person mit an Bord zu haben und generell gilt: zu dritt ist es sicherer, als zu zweit.
Als wir spät abends in Alex‘ Wohnung zurückkehren, geht es mir schlecht und ich fühle mich richtig krank. Nein, es ist nicht nur die steigende Aufregung und Ungewissheit rund um die Tour; ich habe Hals-, Kopf-, diverse Gliederschmerzen und Fieber. Nach einem kurzen Gespräch wird der Aufbruch nochmal vertagt. Nach zwei Tagen ‚auskurieren‘ und nun offiziell (laut Gabriel natürlich viel zu langen) zwei Wochen Trekkingpause geht es am 22. August wirklich los. Diesmal steht nicht nur Freude im Vordergrund: ich mache mich mit gemischten Gefühlen und alles andere als fit auf die längste und anspruchsvollste Trekkingtour meines Lebens.
Etappe 1: 22. – 27. August: Von Karakol bis Enilchek zu dritt
Pünktlich um 9 Uhr morgens treffen wir uns bei EcoTrek und nehmen eine Marshrutka bis Ak-Suu. Ich fühle mich immer noch schwach, der Rucksack lastet superschwer auf meinen Schultern und ich muss zugeben, dass ich auch vor keiner anderen Tour so nervös war; nicht nur die Länge, sondern auch die Schwierigkeit der Route mit ihren vielen Gletschern, dem kommenden Herbst und seinen Wetterunbeständigkeiten – das alles macht mir Angst. Da kann Gabriel noch so oft sagen, dass ich mir keine Sorgen machen brauche.
Die ersten drei Tage geht es langsam aber stetig bergauf, der Weg ebenso wie meine Gesundheit. Zitat aus dem Tagebuch, Tag 2: „Fitness & Gesundheit etwas besser, d.h. bereits ein kleines Mü weniger ganz so schlimm als gestern.“ (Den Spruch „ein kleines Mü“ habe ich mir von Gabriel abgeschaut, der damit jede Distanz unter zehn Metern versteht und tatsächlich meint, den Zeltaufbau damit zu erleichtern („Ein kleines Mü nach links!“)
Ja ich gebe zu, im Nachhinein klingt das doch ein bisschen sehr dramatisch, aber der Rucksack war auch wirklich schwer und nach ein paar Schritten war ich schon außer Atem. Nun gut, die Kehrseite: Ich bin hin und weg von der Landschaft des Tien Shan. Der leichte Nieselregen und die grau verhangenen Wolken lassen das grün des dichten Grases noch saftiger erscheinen; wir laufen durch mystisch-dunklen Nadelwald und vorbei an tausenden Schafen, Ziegen und riesigen Pferdehorden. Die üppige Landschaft bietet einen krassen Gegensatz zu den kargen Geröllhängen, die wir noch aus Tadschikistan gewohnt waren.
Entlang des Aksu-Flusses begegnen wir immer wieder Hirten, kehren sogar zwei Mal bei Familien ein und bekommen Chai, Brot und Butter oder was gerade da ist. David blödelt solange mit den Kindern, dass sie ihn gar nicht mehr gehen lassen und er sie fast gewaltsam abschütteln muss, nachdem ein Junge im Übermut seinen Stock verbogen hat. Ich liebe Kinder und finde das ja auch ganz lustig, Gabriel hingegen marschiert stur kopfschüttelnd voraus und kann sich gerade so noch durchringen, ein paar Fotos zu schießen. Die waren doch so süß, die Beiden, oder?
Anmerkung Libertist: Ging so. Stöcke verbiegen ist nicht sehr süß.
Am dritten Tag schlagen wir bereits am späten Mittag unseren Zeltplatz auf 3200 m auf, von wo wir morgen nach oben loswollen, die Gletschertraverse steht an. David nutzt den freien Nachmittag, um schon mal ein Stück vorauszugehen und den besten Weg zu erkunden; nach zwei Stunden kehrt er zurück und verspicht für morgen einen anstrengenden aber wunderschönen Tag. Abends zwischen 5 und 6 Uhr beginnt es zu regnen und das schlechte Wetter hält bis zum Morgen. Wir sind das von den letzten Abenden schon gewohnt, dafür sind die Tage jedoch (meist) (halbwegs) stabil.
An Tag 4 geht es zeitig los, wir haben schließlich an die 1000 Höhenmeter vor uns. Der Beginn gestaltet sich überraschend einfach; das Geröll ist fest und so geht es flott dahin. Sogar die Sonne kommt ab und zu ein bisschen durch und hebt die ohnehin schon gute Laune noch mehr. Um ca. 12 Uhr sind wir am Fuße des Gletschers angelangt: „David gönnt uns noch eine Gurke-Erdnuss-Salami-Jaus‘n [nur für 10 Tage bepackt, hatte er tatsächlich solche Luxusgüter bei sich], hupft in seine Steigeisen und zieht hoch.“, sagt mein Tagebuch. Gabriel und ich lassen uns und unseren beiden Fotoapparaten noch etwas mehr Zeit.
Die letzten zwei Kilometer bis zum Pass ziehen sich wie Kaugummi; David marschiert voraus und stochert gewissenhaft nach Spalten, während abwechselnd die Sonne herunter knallt und im Schatten der eisige Wind am Hang entlang zieht. Meine Füße werden schon lange nicht mehr warm und umso länger der Anstrengung anhält, desto mehr merke ich meine sinkende Konzentration. Zum Glück scheint das bei den beiden Männern anders zu sein, oder täusche ich mich doch? Vor einer schwer sichtbaren Spalte kniet sich David hin und ich sehe aus dem Augenwinkel einen schwarzen Schatten, der vom Erdboden verschluckt wird.
Nein, zum Glück nicht David, dafür sein rechter Stock. Besser der Stecken, als er selbst, meint er halbwegs zuversichtlich. Wir leuchten in die schwarze Tiefe – nichts zu sehen; die Spalte hat ihn nun. Der weitere Aufstieg gestaltet sich mit nur einem Stock etwas schwierig und so zieht Gabriel voraus. Mein Vorschlag, dass ich auch mal vorgehen könnte, wird sofort abgeschlagen; demnach trotte ich hinterher und habe keine Ahnung, ob die Bedenken der beiden anderen auch so stark wachsen, wie meine.
Dann geht doch alles erstmal gut: Kurz vor 4 Uhr kommen wir endlich auf dem Pass an
(4.140 m) und vor uns liegt das Gletscherfeld, auf dem wir heute Nacht zelten. Ja, richtig, wir zelten AUF DEM GLETSCHER. Sowas hab ich zuvor noch nie gemacht und dementsprechend bin ich einerseits beeindruckt von der Wahnsinnskulisse rundum, andererseits auch besorgt, dass morgens die ganze Ausrüstung gefroren bzw. alles eingeschneit ist. Meine Sorgen werden nicht kleiner, als ich beim Einschlafen schon die ersten Schneeflocken fallen höre, begleitet von immer stärker werdendem Wind. Was nachts und am nächsten Morgen passiert, ist das vermutlich krasseste, das ich bisher in meiner zugegebenermaßen kurzen Outdoor-Karriere erlebt habe. Dementsprechend berichte ich jetzt als Laiin meine subjektive Sicht und überlasse das rationale Kommentieren mal dem lieben Libertisten (der ja auch diese wunderbare Anfänger_innenroute geplant hat).
Anmerkung Libertist: Hihi.
Der Wind nachts hat sich noch zu einem beträchtlichen Sturm entwickelt, von dem Gabriel und ich in regelmäßigen Abständen geweckt werden. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob er überhaupt geschlafen hat? Zum Glück steht das Zelt jedoch gut in Windrichtung; so beruhigt mich Gabriel und meint, der Flatterlärm sei harmlos. Am Morgen wird eilig zusammengepackt – die Sonne scheint und wir wollen ja nicht, dass der auf dem Gletscher liegende Schnee zu matschig wird. Um 9 Uhr brechen wir bei strahlend blauem Himmel auf. Ein paar Hundert Meter und etwa 20 Minuten später kehrt uns das scheinbar gute Wetter den Rücken. Wind, nein, Wind wäre untertrieben, ein Sturm zieht auf. Die Wolken düsen die Berghänge rund um uns herab. Jetzt geht alles ganz schnell – innerhalb von Sekunden ist alles weiß. Wir sind eingekesselt von Gletschern. Rundum geht es nach oben, der einzig mögliche Weg nach unten ist Richtung Osten, und da wollten wir ja eigentlich nicht hin. Jegliche Sicht ist vernebelt. Spalten zu erkennen oder nicht, wäre pures Glück.
Kurz darauf fängt es an zu schneien. Zuerst kleine leichte Flocken, dann fliegen sie immer schneller, härter und beinahe waagrecht gegen unsere Gesichter. Noch wiegen wir uns in Sicherheit; denken, wir können die Zelte einfach wieder aufschlagen und wollen die extreme Wetterlage zumindest kurz mit unseren Kameras festhalten. David drängt zurecht. Wir erreichen den Platz, an dem wir gestern gecampt haben und versuchen, unsere Zelte wieder aufzubauen. Der Sturm versucht hartnäckig, uns die Zeltplane aus den Händen zu reißen, zerrt an meinen Gliedern. Eisig durchdringt er jede Kleidungsschicht und bringt mich zum Schauern. Ich spüre weder Zehen noch Finger, während ich mich bemühe, die Heringe irgendwie in den gefrorenen Untergrund zu klopfen. Gabriel muss wohl mein leidendes Gesicht gesehen haben und deutet mir, ins Zelt zu kriechen, während er David noch beim Einschlagen seiner Heringe hilft. Dankbar versuche ich mich in das Zelt zu winden, drehe und wende meine steifen Glieder, um möglichst wenig Schnee mitzunehmen. Noch fünf Minuten durchbeißen, Sofia, bald wird’s wieder warm. Bald wird alles gut.
Ich habe gerade meine Matte aufgeblasen und den Schlafsack ausgerollt, als der Sturm dreht. Er bläst jetzt mit voller Kraft von allen Seiten und ich weiß nicht, ob unser sonst so verlässliches Tunnelzelt dem gewachsen ist. Gabriel kommt ins Zelt; in seinem Gesicht ist von Entspannung noch nichts zu sehen. Sofort macht er sich daran, die Stangen von innen zu stabilisieren. Es vergehen bestimmt nicht mehr als drei Minuten, bis David den Kopf bei der Türe hereinsteckt. Mit roter Nase und vereistem Bart sagt er: „Mein Zelt ist gebrochen.“ Nicht nur die Stange, sie hat auch gleich ein großes Loch in die Plane gerissen. Scheiße. David macht es sich in unserem Vorzelt so gut es geht bequem, ich gebe ihm ein Snickers und sehe Gabriel hilfesuchend an. Als er einfach gar nichts sagt und mir bloß deutet, unsere Stangen zu schützen, steigen Unsicherheit, Angst und langsam auch Panik in mir. Der Sturm kommt in Böen. Einige können wir abhalten, doch es dauert nicht lange bis zu dem lauten KRACK. Schreck in allen Blicken. Zeltstange gebrochen. Ein paar Sekunden Stille, gefolgt von lautem Fluchen. Ich sage gar nichts, merke nur, wie Tränen aufsteigen. Das Einzige, wo ich mir bis jetzt immer sicher war, ist das Zelt, in das uns verkriechen können und wo ich mich in meinem Schlafsack wärmen kann. Jetzt fällt das weg. Die Männer tauschen Blicke aus. Gabriel spricht aus, was scheinbar auf der Hand liegt: „Wir müssen absteigen.“
Wie hat er diese Entscheidung getroffen? Ist es die Richtige? Darüber kann ich mir gerade keine Gedanken machen. Mit den Tränen kämpfend folge ich einfach Gabriels Anweisungen: Schlafsäcke wegpacken. Matten zusammenrollen. Warm anziehen. Jetzt muss alles schnell gehen, bevor noch mehr passiert. Trotzdem ziehen sich die Minuten des Zeltabbaus endlos und meine kalten Gliedmaßen pochen und schmerzen. Okay, los geht der Notabstieg.
Erleichterung? Noch lange nicht. Ruhig Blut, Sofia – wir schaffen das, wir schaffen das, wir schaffen das. Einstockig stapft David auf der gewissenhaften Spaltensuche voran. Vier Kilometer sind es bis zum Ende des Gletschers; vier Kilometer voller Angst. Angst vor dem Ausrutschen, Angst vor Spalten, Angst vor der Kälte, ja, auch Angst vor Frostbeulen. Sind meine Zehen schon blau? Meter für Meter tasten wir uns nach unten. Nach einer Stunde oder so lichtet sich das dichte Weiß und der Wind lässt nach. Gabriel macht wieder Fotos. Langsam fällt mir auf, dass ich aufs Klo muss. In den letzten Stunden war mein Gehirn gar nicht fähig, den Blasendruck an mein Bewusstsein weiterzuleiten – da lief nur in Dauerschleife: Wir schaffen das.
Und weiter geht’s bergab. Wir schaffen das. Die Sicht wird besser, das Gelände einfacher, kaum mehr Spalten. Natürlich, schaffen wir das! Angekommen am Ende des Gletschers ist es 16:30 Uhr; wir entscheiden, Gabriels Zelt zu reparieren, heute zu dritt darin zu schlafen und morgen gänzlich abzusteigen.
Einigermaßen erleichtert aber noch nicht am Ziel; es folgen noch einige Kilometer und es vergehen zwei weitere Stunden, bis wir den passenden Zeltplatz gefunden haben. Endlich – es dämmert schon – ist ein Fleckchen eben und trocken genug für die Ansprüche des Libertisten und wir können uns an die Reparatur der Zeltstange machen. Dank dem Ersatzsegment – danke, Hilleberg, danke! – geht das auch ganz flott und vor allem gut. Wir kochen im Dunkeln, heute mindestens die doppelte Portion und genießen unser Festmahl; wenn das mal nicht die richtige Gelegenheit für den wohl verwahrten Wodka ist! David und ich sind in Feierlaune, immerhin haben wir alle Schwierigkeiten einigermaßen gut gemeistert. Doch der sichtlich immer noch angespannte Gabriel putzt pünktlich um halb 9 Uhr seine Zähne und kriecht ins gezwungenermaßen heute etwas kuschelige (und wenig duftende) Nachtlager.
Anmerkung Libertist: Wie immer in solchen Situationen war ich nicht ganz so in Feierlaune. Einerseits hat es mir leidgetan, dass wir schon jetzt, zu Beginn, die Route ändern mussten. Klar, es war unumgänglich – wären wir auf dem Gletscher geblieben, hätten wir vielleicht alles verloren. Das war mit Abstand der schwerste Sturm, den ich je im Himalaya erlebt habe.
Andererseits habe ich darüber nachdenken müssen, ob wir grundsätzlich etwas falsch gemacht hatten. Der Pass, über den wir eigentlich wollten, war eigentlich gar kein Pass, sondern eine mehr oder weniger beliebige Stelle, an der wir den Gebirgskamm überqueren wollten. Die Stelle hatte keinen Namen, es gab keine Fotos; ich wusste tatsächlich nichts darüber – die Entscheidung bei der Planung, diesen „Pass“ zu versuchen, beruhte nur auf meinen Google Earth –basierten Vermutungen. Und jetzt kam uns dieser verdammte Sturm dazwischen! Natürlich hatten wir auch kein Seil dabei, David war der einzige mit Steigeisen (Sofia und ich hatten Grödel). Ich hab den Abend zum Anlass genommen, um mal wieder meine Risikobereitschaft in Frage zu stellen, was ja auch nicht schaden kann.
An Tag 6 endet diese Tour-Etappe ein wenig früher als geplant. Wir haben ca. 13 km Abstieg vor uns, es geht den Fluss entlang, angenehm leicht bergab bis zur Straße am Ende des Tals. Von dem Dorf Kök-Kiya soll uns Stas abholen – ein russischer Freund von Christian, über den wir auch unsere Rückfahrt von Echkilitash nach Karakol geplant haben. Dank Azad und Alex von EcoTrek und Gabriels Satelliten-Telefon ist die Organisation der Fahrt kein Problem. Stas holt uns pünktlich um 15:00 Uhr an der ausgemachten Stelle ab, fährt Gabriel und mich nach Enilchek und dann mit David retour nach Karakol, der ein paar Tage darauf zurück nach Österreich fliegt. Gabriel und ich kürzen mit der Fahrt über den Straßenpass also ein Stück der Strecke ab, grundsätzlich sollte es aber wie geplant weitergehen.
Etappe 2: 28. August – 1. September: Von Enilchek bis zu unserem Food-Cache in At-Djaloo
Angekommen am Nachmittag des 27. August in Enilchek, sehen wir uns verwundert um – wir wussten schon vorab, dass hier vor ein paar Jahrzehnten mehr los war und kaum jemand noch da wohnt, trotzdem sind wir beide bei dem Anblick dieser Geisterstadt etwas verdutzt. Enilchek war in den 80er Jahren, als Kirgistan Teil der UDSSR war, die Heimat vieler Bergbauarbeiter, die angrenzend Zinn abbauten. Nach Zusammenbruch der Sowjet Union und dem Abzug der Russen wurden die Arbeiten eingestellt (wie uns erzählt wurde aufgrund fehlenden Know-Hows auf der kirgisischen Seite). So zogen die Arbeiter mit ihren Familien fort und die geplante Metropole wurde niemals fertig gestellt. Es sollte sogar ein Flughafen errichtet werden; Überreste einer angefangenen Tankstelle und einige lehrstehende große Wohnbauten sind noch vorhanden. Ich denke, dass inklusive der dort stationierten Militärposten vielleicht 10 Menschen da leben. Wir haben neben einer riesigen Lagerhalle gezeltet, die scheinbar auch nie eingeweiht, geschweige denn gebührend verwendet wurde.
Reisezeit: August/September 2015
Dauer: 5 Wochen, davon 27 Trekking-Tage
Dieser Bericht schließt direkt an den vorangehenden Tadschikistan-Bericht an. Für Kirgistan hatten wir folgende Route angedacht, für die eine Dauer von ca. 4 Wochen kalkulierten: Ak-Suu – unbenannter Pass – Enilchek – Kayingdi River – At-Djaloo (Pass 2) – Enilckek Glacier – Maj Bulak Glacier (Pass 3) – Musketova Glacier – Musketova Pass (Pass 4) – Semenova Glacier – Sari-Jaz River – Echkilitash
Aufgrund der Länge der Tour gaben wir bei unserem Freund Christian, der sich oft in Kirgistan aufhält und ein paar Wochen vor unserer Ankunft in der Nähe unseres Reisegebiets unterwegs sein wollte, ein Nahrungsdepot in Auftrag, das er in Enilchek hinterlegen sollte. Somit konnten wir mit Essen für 10 Tage im Rucksack starten und planten, Verpflegung für weitere 18 Tage in Enilchek aufzulesen.
Diese Reise war eine der großartigsten, die ich je erlebt habe. Wunderbare Landschaften, herausfordernde Schlüsselstellen und 27 Tage, in denen wir keinen anderen Trekking-Reisenden begegnet sind.
Tag 19, auf einem namenlosen Gipfel in der Nähe des Semenova-Gletschers.
Zelt im Schneesturm auf dem Gletscher.
Yaks an einem Seitenarm des Sari-Jaz Flusses.
Sofia bei Wind und leichtem Schneefall auf einem Gletscher.
Wie schon beim letzten Mal übergebe ich das Wort jetzt an Sofia, die sich großzügigerweise erneut bereit erklärt hat, mir die Schreibarbeit abzunehmen. Nur die Fotos, Bildunterschriften und entsprechend gekennzeichnete Kommentare sind von mir.
15. – 21. August: Von Tadschikistan über die Grenze bis nach Karakol
Als Einstieg möchte ich gedanklich direkt an den zuvor gehenden Reisebericht aus Tadschikistan anschließen: „… und quer durch das Nirwana der Steinwüste verlassen wir nach 35 Tagen Tadschikistan.“. Als wir über den Grenzpass fahren, überraschen uns bereits nach ein paar Kilometern die spürbaren Veränderungen des neuen Landes: Bald zeigen sich satte, saftige Felder; das Gras so grün, wie wir es sei Wochen nicht gesehen haben. Auch die Rinder, die auf den Weideflächen grasen, sehen fetter und gesünder aus. Außerdem sind überall Pferde – wunderschöne, elegante Tiere mit großen Augen und glänzendem Fell. Die Straße ist in einem viel besseren Zustand und sogar an der Beschilderung zeigt sich die bessere Infrastruktur.
Spät abends, eigentlich schon nachts, kommen wir in Osh an und unser Fahrer organisiert und freundlicherweise eine provisorische Übernachtungsgelegenheit bei seiner Schwiegertochter. Am nächsten Morgen fährt er uns zur Haltestelle, von wo die Sammeltaxen (‚Marshrutka‘) nach Bishkek abfahren. Doch bevor wir weiterziehen, wollen wir in Osh unsere restlichen tadschikischen Somoni in kirgisische Som umwechseln – da hat uns aber schon ein Fahrer gesehen und winkt uns in sein Auto. Wir machen ihm klar, dass wir in der Landeswährung nicht zahlen können und unbedingt noch eine Wechselstube brauchen, doch er vertröstet uns auf Bishkek und platziert uns in das Gefährt. Ihm in diesem Belangen zu vertrauen, wird sich bald als großer Fehler herausstellen. Als wir nämlich nach etwa 10 Stunden halbwegs gemütlicher und überraschend problemloser Fahrt spät abends in Bishkek ankommen, haben zwar noch einige Wechselstuben geöffnet, jedoch nimmt keine Somoni an. Außerdem spricht unser Fahrer kein Wort Englisch und will auch nicht verhandeln; er ruft einen Bekannten an, der dann von uns etwa den dreifachen Fahrtpreis verlangt. Es vergehen bestimmt 30 Minuten, bis wir, bzw. Gabriel und er sich einig sind und wir schließlich etwas genervt inklusive der Fahrt zu unserem Hotel pro Person 150 Somoni (20 Euro) zahlen. Von dort aus machen wir uns müde und hungrig noch auf die Suche nach einem Bankomaten, um die Übernachtung zu bezahlen und verschieben unser Somoni-Som-Dilemma erstmal bis auf weiteres.
Dass es in dem Hotel ein weiches, großes Bett, eine richtige warme Dusche und sogar Internet (am Gang) gibt, vertröstet uns doch soweit, dass wir den Abend noch richtig genießen können, in dem Wissen, wir können am nächsten Tag ausschlafen. Falsch gedacht! Früh um 7 Uhr weckt uns ein ungeduldiges Klopfen. Vor der Hotelzimmertüre steht … (Trommelwirbel) … Christian! Er ist auf dem Heimweg aus der Mongolei nach Wien auf kurzem Zwischenstopp in Bishkek und die Freude über das unerwartete Wiedersehen ist riesig. Es tut richtig gut, das Gesicht eines engen Freundes in einem fernen Land auf langer Reise zu sehen. Der Tag vergeht wie im Flug, so viele Geschichten sind zu erzählen.
Meine Reise-Geschichte mit Christian geht zurück bis 2009, Trekking in Kanada und USA, mein erster Reisebericht hier im Forum. Schön, dass wir uns jetzt, 6 Jahre später, hier in Bishkek treffen konnten.
Mithilfe von Christians Russischkenntnissen schaffen wir es auch schließlich, unsere restlichen Somoni auf der Straße umzuwechseln (zu unserem großen Bedauern zu einem sehr schlechten Kurs doch ohne weitere Alternativen). Leider geht Christians Heimflug abends und so ziehen wir am nächsten Morgen zu zweit weiter. Mit der Marshrutka fahren wir etwa 6 Stunden nach Karakol, der ‚Hauptstadt‘ im Tien Shan, von wo wir zu der geplanten großen Tour aufbrechen wollen. Hier schlafen wir bei Christians gutem Freund Alex, der uns auch im ganzen nächsten Monat immer wieder sehr unterstützt und weiterhilft. Alex ist US-Amerikaner, der seit über einem Jahr in Karakol lebt und dort für die Organisation Peace Corps bei der lokalen Trekking- und Tourismusagentur EcoTrek arbeitet. Er und Azad, der Manager dieser Agentur, sind uns in unserer gesamten Kirgistan-Zeit eine große Hilfe und Unterstützung gewesen, vor allem in Sachen Transport-Organisation und Übersetzung – dafür sind wir nach wie vor sehr dankbar.
Am Abend des 18. August betreten wir ein kleines Restaurant in Karakol. Wen sehe ich da drüben sitzen? Das Gesicht kenne ich doch! Tatsächlich, es ist Manuel, ein junger oberösterreichischer Kletterer, den ich auf meiner ersten großen Outdoor-Trekkingreise vor etwa einem Jahr in Leh, Ladakh in einem kleinen Restaurant kennengelernt hatte. In Österreich haben wir uns nie getroffen, aber ich habe ihn sofort erkannt. Er ist mit seinem Kumpel David zum Bergsteigen nach Kirgistan gekommen. Nachdem Manuels Rucksack jedoch nie ankam, mussten sie, anstatt hohe Berge und Gletscher zu besteigen, auf kürzere Trekkingtouren umdisponieren. Und wie es der Zufall so will, sind die beiden Männer von unserer Touridee sehr angetan; so laden wir sie kurzerhand ein, uns für die erste Etappe (8-10 Tage nach Enilchek) zu begleiten. Am nächsten Tag wird vorbereitet und eingekauft: (auf mein Drängen) sogar ein paar luxuriöse Essensgüter wie getrockneten Fisch, getrocknete Pilze, Knoblauch und allerlei andere Gewürze plus ausnahmsweise sogar eine kleine Flasche Wodka für besondere Anlässe. Danke dafür, lieber Gabriel – ich weiß, das hat sich auch für dich gelohnt.
Anmerkung Libertist: Die Pilze waren lecker, der Wodka praktisch. Die mit salziger Fischhaut überzogenen Gräten, also das, was du „getrockneten Fisch“ nennst, wären nicht nötig gewesen.
Abends verabreden wir uns im Hostel der Oberösterreicher zum gemeinsamen Kochen und Entspannen am Lagerfeuer. Für den darauffolgenden Tag, 20. August, wird der Aufbruch zu dritt geplant; Manuel bleibt aufgrund seiner vermissten Ausrüstung in Karakol und David wird uns mit einem gemieteten und durchwegs etwas maroden Zelt bis nach Enilchek begleiten. Er war in den letzten Jahren auf Bergsteig-Reisen in Südamerika, Nepal und viel in Europa, besonders im heimischen Alpenraum unterwegs. Zu seinen Spezialgebieten gehören Gletscher und Schnee – er ist nicht nur begeisterter Schitourengeher, sondern auch (Eis-) Kletterer und hat Erfahrung mit Spaltenbergungen. Für die erste schwierige Passpassage beruhigt es mich sehr, noch eine erfahrene Person mit an Bord zu haben und generell gilt: zu dritt ist es sicherer, als zu zweit.
Als wir spät abends in Alex‘ Wohnung zurückkehren, geht es mir schlecht und ich fühle mich richtig krank. Nein, es ist nicht nur die steigende Aufregung und Ungewissheit rund um die Tour; ich habe Hals-, Kopf-, diverse Gliederschmerzen und Fieber. Nach einem kurzen Gespräch wird der Aufbruch nochmal vertagt. Nach zwei Tagen ‚auskurieren‘ und nun offiziell (laut Gabriel natürlich viel zu langen) zwei Wochen Trekkingpause geht es am 22. August wirklich los. Diesmal steht nicht nur Freude im Vordergrund: ich mache mich mit gemischten Gefühlen und alles andere als fit auf die längste und anspruchsvollste Trekkingtour meines Lebens.
Etappe 1: 22. – 27. August: Von Karakol bis Enilchek zu dritt
Pünktlich um 9 Uhr morgens treffen wir uns bei EcoTrek und nehmen eine Marshrutka bis Ak-Suu. Ich fühle mich immer noch schwach, der Rucksack lastet superschwer auf meinen Schultern und ich muss zugeben, dass ich auch vor keiner anderen Tour so nervös war; nicht nur die Länge, sondern auch die Schwierigkeit der Route mit ihren vielen Gletschern, dem kommenden Herbst und seinen Wetterunbeständigkeiten – das alles macht mir Angst. Da kann Gabriel noch so oft sagen, dass ich mir keine Sorgen machen brauche.
Die ersten drei Tage geht es langsam aber stetig bergauf, der Weg ebenso wie meine Gesundheit. Zitat aus dem Tagebuch, Tag 2: „Fitness & Gesundheit etwas besser, d.h. bereits ein kleines Mü weniger ganz so schlimm als gestern.“ (Den Spruch „ein kleines Mü“ habe ich mir von Gabriel abgeschaut, der damit jede Distanz unter zehn Metern versteht und tatsächlich meint, den Zeltaufbau damit zu erleichtern („Ein kleines Mü nach links!“)
Ja ich gebe zu, im Nachhinein klingt das doch ein bisschen sehr dramatisch, aber der Rucksack war auch wirklich schwer und nach ein paar Schritten war ich schon außer Atem. Nun gut, die Kehrseite: Ich bin hin und weg von der Landschaft des Tien Shan. Der leichte Nieselregen und die grau verhangenen Wolken lassen das grün des dichten Grases noch saftiger erscheinen; wir laufen durch mystisch-dunklen Nadelwald und vorbei an tausenden Schafen, Ziegen und riesigen Pferdehorden. Die üppige Landschaft bietet einen krassen Gegensatz zu den kargen Geröllhängen, die wir noch aus Tadschikistan gewohnt waren.
Entlang des Aksu-Flusses begegnen wir immer wieder Hirten, kehren sogar zwei Mal bei Familien ein und bekommen Chai, Brot und Butter oder was gerade da ist. David blödelt solange mit den Kindern, dass sie ihn gar nicht mehr gehen lassen und er sie fast gewaltsam abschütteln muss, nachdem ein Junge im Übermut seinen Stock verbogen hat. Ich liebe Kinder und finde das ja auch ganz lustig, Gabriel hingegen marschiert stur kopfschüttelnd voraus und kann sich gerade so noch durchringen, ein paar Fotos zu schießen. Die waren doch so süß, die Beiden, oder?
Anmerkung Libertist: Ging so. Stöcke verbiegen ist nicht sehr süß.
Am dritten Tag schlagen wir bereits am späten Mittag unseren Zeltplatz auf 3200 m auf, von wo wir morgen nach oben loswollen, die Gletschertraverse steht an. David nutzt den freien Nachmittag, um schon mal ein Stück vorauszugehen und den besten Weg zu erkunden; nach zwei Stunden kehrt er zurück und verspicht für morgen einen anstrengenden aber wunderschönen Tag. Abends zwischen 5 und 6 Uhr beginnt es zu regnen und das schlechte Wetter hält bis zum Morgen. Wir sind das von den letzten Abenden schon gewohnt, dafür sind die Tage jedoch (meist) (halbwegs) stabil.
An Tag 4 geht es zeitig los, wir haben schließlich an die 1000 Höhenmeter vor uns. Der Beginn gestaltet sich überraschend einfach; das Geröll ist fest und so geht es flott dahin. Sogar die Sonne kommt ab und zu ein bisschen durch und hebt die ohnehin schon gute Laune noch mehr. Um ca. 12 Uhr sind wir am Fuße des Gletschers angelangt: „David gönnt uns noch eine Gurke-Erdnuss-Salami-Jaus‘n [nur für 10 Tage bepackt, hatte er tatsächlich solche Luxusgüter bei sich], hupft in seine Steigeisen und zieht hoch.“, sagt mein Tagebuch. Gabriel und ich lassen uns und unseren beiden Fotoapparaten noch etwas mehr Zeit.
Die letzten zwei Kilometer bis zum Pass ziehen sich wie Kaugummi; David marschiert voraus und stochert gewissenhaft nach Spalten, während abwechselnd die Sonne herunter knallt und im Schatten der eisige Wind am Hang entlang zieht. Meine Füße werden schon lange nicht mehr warm und umso länger der Anstrengung anhält, desto mehr merke ich meine sinkende Konzentration. Zum Glück scheint das bei den beiden Männern anders zu sein, oder täusche ich mich doch? Vor einer schwer sichtbaren Spalte kniet sich David hin und ich sehe aus dem Augenwinkel einen schwarzen Schatten, der vom Erdboden verschluckt wird.
Nein, zum Glück nicht David, dafür sein rechter Stock. Besser der Stecken, als er selbst, meint er halbwegs zuversichtlich. Wir leuchten in die schwarze Tiefe – nichts zu sehen; die Spalte hat ihn nun. Der weitere Aufstieg gestaltet sich mit nur einem Stock etwas schwierig und so zieht Gabriel voraus. Mein Vorschlag, dass ich auch mal vorgehen könnte, wird sofort abgeschlagen; demnach trotte ich hinterher und habe keine Ahnung, ob die Bedenken der beiden anderen auch so stark wachsen, wie meine.
Dann geht doch alles erstmal gut: Kurz vor 4 Uhr kommen wir endlich auf dem Pass an
(4.140 m) und vor uns liegt das Gletscherfeld, auf dem wir heute Nacht zelten. Ja, richtig, wir zelten AUF DEM GLETSCHER. Sowas hab ich zuvor noch nie gemacht und dementsprechend bin ich einerseits beeindruckt von der Wahnsinnskulisse rundum, andererseits auch besorgt, dass morgens die ganze Ausrüstung gefroren bzw. alles eingeschneit ist. Meine Sorgen werden nicht kleiner, als ich beim Einschlafen schon die ersten Schneeflocken fallen höre, begleitet von immer stärker werdendem Wind. Was nachts und am nächsten Morgen passiert, ist das vermutlich krasseste, das ich bisher in meiner zugegebenermaßen kurzen Outdoor-Karriere erlebt habe. Dementsprechend berichte ich jetzt als Laiin meine subjektive Sicht und überlasse das rationale Kommentieren mal dem lieben Libertisten (der ja auch diese wunderbare Anfänger_innenroute geplant hat).
Anmerkung Libertist: Hihi.
Der Wind nachts hat sich noch zu einem beträchtlichen Sturm entwickelt, von dem Gabriel und ich in regelmäßigen Abständen geweckt werden. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob er überhaupt geschlafen hat? Zum Glück steht das Zelt jedoch gut in Windrichtung; so beruhigt mich Gabriel und meint, der Flatterlärm sei harmlos. Am Morgen wird eilig zusammengepackt – die Sonne scheint und wir wollen ja nicht, dass der auf dem Gletscher liegende Schnee zu matschig wird. Um 9 Uhr brechen wir bei strahlend blauem Himmel auf. Ein paar Hundert Meter und etwa 20 Minuten später kehrt uns das scheinbar gute Wetter den Rücken. Wind, nein, Wind wäre untertrieben, ein Sturm zieht auf. Die Wolken düsen die Berghänge rund um uns herab. Jetzt geht alles ganz schnell – innerhalb von Sekunden ist alles weiß. Wir sind eingekesselt von Gletschern. Rundum geht es nach oben, der einzig mögliche Weg nach unten ist Richtung Osten, und da wollten wir ja eigentlich nicht hin. Jegliche Sicht ist vernebelt. Spalten zu erkennen oder nicht, wäre pures Glück.
Kurz darauf fängt es an zu schneien. Zuerst kleine leichte Flocken, dann fliegen sie immer schneller, härter und beinahe waagrecht gegen unsere Gesichter. Noch wiegen wir uns in Sicherheit; denken, wir können die Zelte einfach wieder aufschlagen und wollen die extreme Wetterlage zumindest kurz mit unseren Kameras festhalten. David drängt zurecht. Wir erreichen den Platz, an dem wir gestern gecampt haben und versuchen, unsere Zelte wieder aufzubauen. Der Sturm versucht hartnäckig, uns die Zeltplane aus den Händen zu reißen, zerrt an meinen Gliedern. Eisig durchdringt er jede Kleidungsschicht und bringt mich zum Schauern. Ich spüre weder Zehen noch Finger, während ich mich bemühe, die Heringe irgendwie in den gefrorenen Untergrund zu klopfen. Gabriel muss wohl mein leidendes Gesicht gesehen haben und deutet mir, ins Zelt zu kriechen, während er David noch beim Einschlagen seiner Heringe hilft. Dankbar versuche ich mich in das Zelt zu winden, drehe und wende meine steifen Glieder, um möglichst wenig Schnee mitzunehmen. Noch fünf Minuten durchbeißen, Sofia, bald wird’s wieder warm. Bald wird alles gut.
Ich habe gerade meine Matte aufgeblasen und den Schlafsack ausgerollt, als der Sturm dreht. Er bläst jetzt mit voller Kraft von allen Seiten und ich weiß nicht, ob unser sonst so verlässliches Tunnelzelt dem gewachsen ist. Gabriel kommt ins Zelt; in seinem Gesicht ist von Entspannung noch nichts zu sehen. Sofort macht er sich daran, die Stangen von innen zu stabilisieren. Es vergehen bestimmt nicht mehr als drei Minuten, bis David den Kopf bei der Türe hereinsteckt. Mit roter Nase und vereistem Bart sagt er: „Mein Zelt ist gebrochen.“ Nicht nur die Stange, sie hat auch gleich ein großes Loch in die Plane gerissen. Scheiße. David macht es sich in unserem Vorzelt so gut es geht bequem, ich gebe ihm ein Snickers und sehe Gabriel hilfesuchend an. Als er einfach gar nichts sagt und mir bloß deutet, unsere Stangen zu schützen, steigen Unsicherheit, Angst und langsam auch Panik in mir. Der Sturm kommt in Böen. Einige können wir abhalten, doch es dauert nicht lange bis zu dem lauten KRACK. Schreck in allen Blicken. Zeltstange gebrochen. Ein paar Sekunden Stille, gefolgt von lautem Fluchen. Ich sage gar nichts, merke nur, wie Tränen aufsteigen. Das Einzige, wo ich mir bis jetzt immer sicher war, ist das Zelt, in das uns verkriechen können und wo ich mich in meinem Schlafsack wärmen kann. Jetzt fällt das weg. Die Männer tauschen Blicke aus. Gabriel spricht aus, was scheinbar auf der Hand liegt: „Wir müssen absteigen.“
Wie hat er diese Entscheidung getroffen? Ist es die Richtige? Darüber kann ich mir gerade keine Gedanken machen. Mit den Tränen kämpfend folge ich einfach Gabriels Anweisungen: Schlafsäcke wegpacken. Matten zusammenrollen. Warm anziehen. Jetzt muss alles schnell gehen, bevor noch mehr passiert. Trotzdem ziehen sich die Minuten des Zeltabbaus endlos und meine kalten Gliedmaßen pochen und schmerzen. Okay, los geht der Notabstieg.
Erleichterung? Noch lange nicht. Ruhig Blut, Sofia – wir schaffen das, wir schaffen das, wir schaffen das. Einstockig stapft David auf der gewissenhaften Spaltensuche voran. Vier Kilometer sind es bis zum Ende des Gletschers; vier Kilometer voller Angst. Angst vor dem Ausrutschen, Angst vor Spalten, Angst vor der Kälte, ja, auch Angst vor Frostbeulen. Sind meine Zehen schon blau? Meter für Meter tasten wir uns nach unten. Nach einer Stunde oder so lichtet sich das dichte Weiß und der Wind lässt nach. Gabriel macht wieder Fotos. Langsam fällt mir auf, dass ich aufs Klo muss. In den letzten Stunden war mein Gehirn gar nicht fähig, den Blasendruck an mein Bewusstsein weiterzuleiten – da lief nur in Dauerschleife: Wir schaffen das.
Und weiter geht’s bergab. Wir schaffen das. Die Sicht wird besser, das Gelände einfacher, kaum mehr Spalten. Natürlich, schaffen wir das! Angekommen am Ende des Gletschers ist es 16:30 Uhr; wir entscheiden, Gabriels Zelt zu reparieren, heute zu dritt darin zu schlafen und morgen gänzlich abzusteigen.
Einigermaßen erleichtert aber noch nicht am Ziel; es folgen noch einige Kilometer und es vergehen zwei weitere Stunden, bis wir den passenden Zeltplatz gefunden haben. Endlich – es dämmert schon – ist ein Fleckchen eben und trocken genug für die Ansprüche des Libertisten und wir können uns an die Reparatur der Zeltstange machen. Dank dem Ersatzsegment – danke, Hilleberg, danke! – geht das auch ganz flott und vor allem gut. Wir kochen im Dunkeln, heute mindestens die doppelte Portion und genießen unser Festmahl; wenn das mal nicht die richtige Gelegenheit für den wohl verwahrten Wodka ist! David und ich sind in Feierlaune, immerhin haben wir alle Schwierigkeiten einigermaßen gut gemeistert. Doch der sichtlich immer noch angespannte Gabriel putzt pünktlich um halb 9 Uhr seine Zähne und kriecht ins gezwungenermaßen heute etwas kuschelige (und wenig duftende) Nachtlager.
Anmerkung Libertist: Wie immer in solchen Situationen war ich nicht ganz so in Feierlaune. Einerseits hat es mir leidgetan, dass wir schon jetzt, zu Beginn, die Route ändern mussten. Klar, es war unumgänglich – wären wir auf dem Gletscher geblieben, hätten wir vielleicht alles verloren. Das war mit Abstand der schwerste Sturm, den ich je im Himalaya erlebt habe.
Andererseits habe ich darüber nachdenken müssen, ob wir grundsätzlich etwas falsch gemacht hatten. Der Pass, über den wir eigentlich wollten, war eigentlich gar kein Pass, sondern eine mehr oder weniger beliebige Stelle, an der wir den Gebirgskamm überqueren wollten. Die Stelle hatte keinen Namen, es gab keine Fotos; ich wusste tatsächlich nichts darüber – die Entscheidung bei der Planung, diesen „Pass“ zu versuchen, beruhte nur auf meinen Google Earth –basierten Vermutungen. Und jetzt kam uns dieser verdammte Sturm dazwischen! Natürlich hatten wir auch kein Seil dabei, David war der einzige mit Steigeisen (Sofia und ich hatten Grödel). Ich hab den Abend zum Anlass genommen, um mal wieder meine Risikobereitschaft in Frage zu stellen, was ja auch nicht schaden kann.
An Tag 6 endet diese Tour-Etappe ein wenig früher als geplant. Wir haben ca. 13 km Abstieg vor uns, es geht den Fluss entlang, angenehm leicht bergab bis zur Straße am Ende des Tals. Von dem Dorf Kök-Kiya soll uns Stas abholen – ein russischer Freund von Christian, über den wir auch unsere Rückfahrt von Echkilitash nach Karakol geplant haben. Dank Azad und Alex von EcoTrek und Gabriels Satelliten-Telefon ist die Organisation der Fahrt kein Problem. Stas holt uns pünktlich um 15:00 Uhr an der ausgemachten Stelle ab, fährt Gabriel und mich nach Enilchek und dann mit David retour nach Karakol, der ein paar Tage darauf zurück nach Österreich fliegt. Gabriel und ich kürzen mit der Fahrt über den Straßenpass also ein Stück der Strecke ab, grundsätzlich sollte es aber wie geplant weitergehen.
Etappe 2: 28. August – 1. September: Von Enilchek bis zu unserem Food-Cache in At-Djaloo
Angekommen am Nachmittag des 27. August in Enilchek, sehen wir uns verwundert um – wir wussten schon vorab, dass hier vor ein paar Jahrzehnten mehr los war und kaum jemand noch da wohnt, trotzdem sind wir beide bei dem Anblick dieser Geisterstadt etwas verdutzt. Enilchek war in den 80er Jahren, als Kirgistan Teil der UDSSR war, die Heimat vieler Bergbauarbeiter, die angrenzend Zinn abbauten. Nach Zusammenbruch der Sowjet Union und dem Abzug der Russen wurden die Arbeiten eingestellt (wie uns erzählt wurde aufgrund fehlenden Know-Hows auf der kirgisischen Seite). So zogen die Arbeiter mit ihren Familien fort und die geplante Metropole wurde niemals fertig gestellt. Es sollte sogar ein Flughafen errichtet werden; Überreste einer angefangenen Tankstelle und einige lehrstehende große Wohnbauten sind noch vorhanden. Ich denke, dass inklusive der dort stationierten Militärposten vielleicht 10 Menschen da leben. Wir haben neben einer riesigen Lagerhalle gezeltet, die scheinbar auch nie eingeweiht, geschweige denn gebührend verwendet wurde.
Kommentar